„Wir waren alle Studenten, die sich selbst ausbeuteten“

Interview mit Stefan Drößler über die ersten Jahre der Bonner Kinemathek und des Bonner Sommerkinos

Im Rahmen des Master-Studiengangs „Filmkulturerbe“ an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF findet eine Beschäftigung mit kleinen Filmarchiven und Privatsammlungen statt. In diesem Kontext ist das folgende Interview entstanden.

1985 Erstes Bonner Sommerkino im Innenhof des Poppelsdorfer Schlosses

1986 Gründung der Bonner Kinemathek und des Kinos in der Brotfabrik

1990 Die ersten Bonner Stummfilmtage finden in der Brotfabrik statt

1991 Das Bonner Sommerkino wird in den Arkadenhof der Universität verlegt

1995 Die Internationalen Stummfilmtage werden mit dem Bonner Sommerkino zusammengelegt

1999 Stefan Drößler wird Direktor des Filmmuseums München

Memento Movie: Wie kam es zur Wahl des Namens „Kinemathek“?

Stefan Drößler: Nun, da muss ich ein wenig ausholen. Wir, die Gründer, hatten allesamt Erfahrungen in der Filmclubarbeit, mit Filmfestivals oder in Filmgruppen gesammelt. Ich hatte bereits 1977 im Konrad-Adenauer-Gymnasium einen Filmclub gegründet, die Film-AG, die dann in verschiedenen anderen Schulen, Jugendheimen und später auch an der Bonner Universität und in Kulturzentren Filmreihen, Filmseminare und Festivals organisierte. Wir verfügten über mobile Filmprojektoren für 8mm, 16mm und 35mm, die wir für pausenlosen Betrieb mit großen Spulen und höhere Lichtleistung umgebaut hatten. Nur waren die Räume, in denen wir Filme zeigten, technisch nicht optimal eingerichtet. Die Sitze waren unbequem und boten oft keine optimale Sicht auf die Leinwand, die Akustik beeinträchtigte die oft sowieso schon bescheidene Verständlichkeit des 16mm-Lichttons. Wir sehnten uns nach richtigem Kino, nach einem technisch perfekten Saal, in dem wir die Filme optimal zeigen konnten. Unsere Ansprüche waren hoch, und um dies deutlich zu machen, wählten wir den Namen „Kinemathek“. Das klang seriös, kulturell hochwertig, wissenschaftlich, institutionell.

„Kinemathek“ war damals in Deutschland kein gängiger Begriff, da konnte sich niemand so richtig etwas vorstellen. Für uns war das wichtig, weil wir den Begriff „Kommunales Kino“ nicht verwenden konnten. Nachdem die Stadt Frankfurt Anfang der 1970er Jahre in einem Prozess gegen die Filmwirtschaft durchgefochten hatte, dass Filmarbeit von Kommunen keinen unlauteren Wettbewerb darstellt, hatten sich in vielen Städten Kommunale Kinos gegründet. Im CDU-regierten Bonn stieß das Konzept vom „roten“ Hilmar Hoffmann auf wenig Gegenliebe. Ich erinnere mich noch sehr gut an ein Gespräch mit dem Oberbürgermeister, der den Begriff „Kommunales Kino“ mit „kommunistischem Kino“ gleichzusetzen schien. Auch der Betreiber des legendären Bonner Programmkinos Woki am Hauptbahnhof, das tagsüber Actionfilme im Nonstop und abends Filmkunst anbot, hatte keinerlei Interesse daran, dass ihm jemand in Bonn Konkurrenz machte. Mit all seiner Marktmacht sah er zu, dass bekanntere Filmklassiker, die er regelmäßig in seinem Programm zeigte, für alle anderen Filmclubs in Bonn von den jeweiligen Verleihen gesperrt wurden. Ernsthafte Filmarbeit bot in Bonn – wie auch in anderen Orten Nordrhein-Westfalens – nur die Volkshochschule an, und die fand im nur mit 16mm-Projektion ausgestatteten Vortragssaal des Rheinischen Landesmuseums statt.

Selbstgemachtes Flugblatt für das erste Bonner Sommerkino 1985; Foto: Archiv Stefan Drößler

Der Name „Kinemathek“ definierte unsere Position zwischen den Fronten, deren Anspruch durchaus groß war. Wir wollten uns einerseits von den mit 16mm und Rollenwechselpausen arbeitenden amateurhaften Filmclubvorführungen abheben und nicht vom Wohlwollen städtischer oder universitärer Verwaltungen abhängig sein, andererseits dem kommerziellen Kinobetrieb etwas entgegensetzen, da viele alte und neue Filme in Bonn einfach nicht zu sehen waren. Es gab ja noch keine Videos, und die Anzahl von auf Fernsehsendern ausgestrahlten Filmen war noch überschaubar. Der einzige halbwegs erfolgversprechende Weg, eigene Räumlichkeiten zu bekommen, war seinerzeit, sich einer Initiative der studentischen Kulturgruppen in Bonn anzuschließen, die ein eigenes soziokulturelles Zentrum forderte. Um innerhalb des Kulturzentrums eigenständig ein Kino betreiben zu können, musste eine juristische Form gefunden werden, und das war ein eingetragener Verein, der sich „Bonner Kinemathek“ nannte.

Memento Movie: Wie wichtig war die Cinémathèque Francaise als Vorbild für die Bonner Kinemathek?

Stefan Drößler: Langlois und die Cinémathèque Française, das war ganz weit weg. Naja, so weit auch wieder nicht, man konnte von Bonn aus leicht in wenigen Stunden mit dem Zug nach Paris fahren. Ich bin schon als Schüler in meinen Sommerferien Ende der 1970er Jahre nach Paris gereist, habe hinter dem Bois de Boulogne auf dem Zeltplatz übernachtet, weil sonst alles zu teuer war, und bin so oft ich konnte in die Cinémathèque Française gerannt. Mein Französisch war zwar nicht so gut, dass ich alles verstanden hätte, aber da liefen ja auch viele nicht französische Filme in der Originalfassung. Die Cinémathèque war eine mythische Institution; diese sich zum Vorbild zu nehmen, wäre vermessen gewesen. Zumal in Frankreich ganz allgemein die Akzeptanz von Film als Kulturgut viel höher und gesellschaftlich ganz anders verwurzelt ist als in Deutschland. Ich saß ehrfurchtsvoll im Kino des Centre Pompidou, das die Cinémathèque als Spielstätte nutzte, und hätte niemals gewagt, als ein nobody jemanden von den dort Aktiven anzusprechen.

In Deutschland gab es genug Leute, deren Arbeit mich faszinierte und die mich zu dieser Zeit stark beeinflussten. Enno Patalas mit seinen Stummfilmrekonstruktionen gehörte dazu. Als er Ende der 1970er Jahre die erste Rolle seines rekonstruierten Nosferatu (1921) im Rahmen eines der von Lothar Prox organisierten Filmmusiksymposien zeigte, war ich tief beeindruckt und nahm mir vor, den Film zu zeigen, sobald er vollständig restauriert sein würde – was ich dann 1987 auch tatsächlich geschafft habe, als wir die gerade vollendete Rekonstruktion im Bonner Sommerkino zum ersten Mal gezeigt haben und Enno Patalas sogar mitkam, um die Ergebnisse der neu eingefärbten rosa Dämmerungsbilder erstmals selbst auf der Leinwand zu sehen.

Das Programm des Kommunalen Kinos in Frankfurt mit seinen wunderbaren Programmheften verfolgte ich, und manchmal sind wir von Bonn aus mit einigen Leuten zu einzelnen Abendvorstellungen dorthin gefahren. Ich bewunderte Leo Schönecker, der eine höchst interessante Filmsammlung aufgebaut hatte und über sein „Filmkundliches Archiv“ in Köln verlieh. Er organisierte dienstags in der Bonner Volkshochschule Filmseminare und lud jedes Jahr einen Filmregisseur ein, 1975 Werner Herzog, dann Jean-Marie Straub, André Delvaux und Peter Lilienthal, deren Gesamtwerke ich als Heranwachsender auf diese Weise kennenlernte. Dann waren da noch Michael Schaaf, der umtriebige Leiter der Landesarbeitsgemeinschaft für Jugendfilmarbeit NRW, der in seinen Filmreihen Genrekino in den Mittelpunkt stellte, und Jürgen Labenski, der fürs ZDF Stummfilme rekonstruierte und ausgerechnet im Bonner Metropol die erste große Orchesteraufführung zu einem Stummfilm aufzeichnen ließ, Überflüssige Menschen (1926) von Alexander Rasumny. Das waren engagierte Menschen, die ihre Leidenschaft für Film und Kino vermitteln konnten und mir zeigten, wie man mit Film umgehen sollte. In meinem Schulfilmclub habe ich diese Erfahrungen dann in eigenen Filmreihen schon zu adaptieren versucht.

Memento Movie: Wie lief die Gründung der Bonner Kinemathek ab?

Stefan Drößler: Aus den Erfahrungen mit dem Verein „Medien- und Kulturwerkstatt Uni Bonn e.V. Cosa Nostra“ heraus, in dem sich die studentischen Kulturgruppen organisiert hatten, wurden für den Betrieb der alten Germania-Brotfabrik in Bonn-Beuel zwei Vereine gegründet. Der „Traumpalast e.V.“, der für den Betrieb des Gesamtzentrums zuständig war, und – wie gesagt – die „Bonner Kinemathek e.V.“ für den Kinobetrieb. In Bonn gab es zu der Zeit verschiedene Filmclub-Initiativen, aus denen wir die aktiven Leute für die Kinemathek anwerben konnten. Wir sind dann in die leeren Hallen der Brotfabrik rein, haben uns einen Trakt ausgeguckt, der eine ordentliche Raumhöhe aufwies, und haben da ein Kino hineingebaut. Und das darf man ruhig wörtlich nehmen. Jede Arbeit, die nicht von einem professionellen Maurer oder Elektriker gemacht werden musste, haben wir selber ausgeführt. Wandverkleidungen montiert, Stoffverkleidungen getackert, Vorhangsysteme montiert, Fußbodenpodeste gebaut, Kinositze, die wir bei einer Kinoschließung abgestaubt hatten, festgeschraubt, Filmprojektoren installiert, Tonkabel verlegt, Lautsprecher gebaut und aufgehängt usw. Wir haben sogar eine Lüftungsanlage aus alten Propellern und ausgemusterten Lüftungsrohren selbst konstruierte. Gott sei Dank war ein technisch versierter Schulfreund von mir dabei, der heute im Zentrum für Luft- und Raumfahrt arbeitet. Der hat sich in die Kinotechnik hineingearbeitet und mit seinen Installationen dafür gesorgt, dass wir im Kino von 8mm über 16mm und 35mm bis 70mm und Video alles zeigen konnten, immer im richtigen Bildformat, mit korrekt abgekaschtem Bild und Mehrkanalton.

Titelseite des ersten Faltprogramms des Kinos in der Brotfabrik vom September 1986; Foto: Archiv Stefan Drößler

Wir waren mit unseren 91 Plätzen wahrscheinlich das kleinste Kino in Deutschland, das öffentlich 70mm Filme gezeigt hat. Wir waren auch das erste Kino in Bonn, das eine originale Dolby-Stereo-Tonanlage besaß. Und wir haben parallel immer neue Dinge entwickelt, Doppelprojektionen, 3D-Vorführsysteme, einen Spulenturm für die 70mm-Filme. Das waren technisch extrem komplexe Eigenkonstruktionen, immer selbst zusammengebaut aus alten Geräten, die wir bei Kinoauflösungen geschenkt bekamen oder günstig erwerben konnten. Schon bevor es die Brotfabrik gab, besaßen wir sehr lichtstarke mobile Projektoren für die verschiedenen Filmformate, mit denen wir Projekte wie das Internationale Bonner Kurzfilmfestival „Experi & Nixperi“, das über viele Jahre lang an unterschiedlichen Orten in Bonn stattgefunden hat und im Kulturzentrum Brotfabrik endlich ideale Räumlichkeiten vorfand, und das Bonner Sommerkino organisierten, aus dem die heutigen Internationalen Bonner Stummfilmtage hervorgegangen sind. Das erste Bonner Sommerkino fand 1985 – ein Jahr vor der Gründung der Bonner Kinemathek – im Innenhof des Poppelsdorfer Schlosses statt, zu einer Zeit, als es in Deutschland noch kaum Open-Air-Kinos gab. Da haben wir damals nicht nur Stummfilme gezeigt, sondern auch neuere Tonfilme, aber immer mit der Absicht, Bonner Erstaufführungen zu präsentieren, also Filme, die im normalen Bonner Kinoprogramm nicht berücksichtigt wurden. Und diese Erfahrungen sind dann in das neue Kino mit eingeflossen.

Memento Movie: Wurde die Kinemathek von der Stadt Bonn mit finanziert und was für einen Status hatte das Kino?

Stefan Drößler: Die Bonner Kinemathek e.V. wurde von der Stadt nicht gefördert. Wir haben allerdings schon bald einen zweiten Verein gegründet, den Förderverein Filmkultur Bonn e.V., über den wir Projekte wie die Bonner Stummfilmtage oder subventionierte Filmwochen organisiert haben. Dieser Verein wurde von der Stadt unterstützt. Das war eine ganz clevere Konstruktion, weil dieser Verein dann für Projekte das Kino der Bonner Kinemathek anmieten und dies als Ausgabe bei der Abrechnung auch ausweisen konnte. Mit der Bonner Kinemathek waren wir Mitglied im Hauptverband der deutschen Filmtheater und konnten uns um die jährlichen Filmtheaterprämien bewerben, mit dem Förderverein in der AG für kommunale Filmarbeit. Ich war Geschäftsführer der Kinemathek und Vorsitzender des Fördervereins, konnte also für beide Vereine sprechen. Wir haben also quasi auf beiden Bühnen getanzt und uns jeweils die Vorteile der beiden Konzepte gesichert. Wir machten eine Art Programm, das dem „nicht-gewerblichen“ Bereich entsprach, fungierten aber als „gewerbliches Kino“ und nutzten die vielfältigen Mittel der „Wirtschaftsförderung“ wie Programmprämien, die viel höher waren als die kleinen Zuschüsse, die den meisten Kommunalen Kinos von ihrer Stadt gewährt wurden.

Es bestand ja die aberwitzige Situation, dass wenn ein kommunales, gefördertes Kino bei einem amerikanischen Filmverleih einen Film bestellte, der Verleih unheimlich hohe Preise aufrief. Die haben einfach ein ausverkauftes Kino zu Grunde gelegt und dann die Filme, wenn überhaupt, zu sehr hohen Fixpreisen ab 500 DM herausgegeben, während ein „normales“ kommerzielles Kino den Film gegen eine Mindestgarantie von 100 DM bekam und dann hinterher 35 % der Eintrittsgelder abführen musste. Die Branche sagte halt: die geförderten Kinos, die haben so niedrige Eintrittspreise, da lohnt sich die prozentuale Beteiligung nicht. Für uns war es ganz essentiell, als „kommerzielles Kino“ eingestuft zu werden, weil wir nur so überhaupt überleben konnten, obwohl wir immer einen hohen Anteil von Filmen, die nicht im kommerziellen Filmverleih erhältlich waren, aus Archiven bezogen und über den Förderverein bestellten. Heutzutage gibt es diese krasse Unterscheidung zwischen gewerblichem und nichtgewerblichen Kinos nicht mehr, die sich damals auch über das Format definierte. Gewerbliche Kinos spielten hauptsächlich 35mm, nicht-gewerbliche 16mm. Da die kommerziellen Kinos heute kein Repertoire mehr spielen, verläuft die Trennlinie nun zwischen Erstaufführungen und allem, was nicht mehr ganz neu ist. Die Verwertung geht immer schneller, und nach wenigen Wochen ist ein Film fürs Kino schon uninteressant, wird noch fürs Heimkino vermarktet und ist nach wenigen Monaten bereits ein Museumsstück.

Memento Movie: War das Sammeln von Filmen von Anfang an ein Ziel der Kinemathek?

Stefan Drößler: Ich hatte schon in meiner Zeit vor der Gründung der Kinemathek Filmkopien von Sammlern erworben, auf Flohmärkten gekauft oder im Sperrmüll von Botschaften oder Behörden gefunden. Das kann man sich heute kaum noch vorstellen, was damals alles möglich war. Dass wir das Sammeln in der Kinemathek systematisch fortgeführt haben, lag daran, dass wir von unserem Selbstverständnis her immer auf der Jagd nach Filmen waren, die keiner kannte und die vergessen worden waren. Und das war nicht einfach, solche Filme aufzutreiben – manchmal kannten wir Titel nur aus Büchern und es dauerte Jahre, bis wir eine spielbare Kopie fanden. Oft gab es nur eine einzige Filmkopie, die als Archivstück oder Sendekopie für Aufführungen nicht herausgegeben wurde. Manchmal gelang es uns, den Rechtsinhaber zu überzeugen, eine neue Kopie zu ziehen oder ihm eine Kopie abzukaufen.

Die ersten Bonner Stummfilmtage fanden im Oktober 1990 im Kino in der Brotfabrik statt; Foto: Archiv Stefan Drößler

Ich weiß noch sehr gut, wie es mir zum ersten Mal passierte, dass ein Verleiher mir Kopien zum Kauf anbot. Ich wollte eine Jacques-Tati-Retro machen und keiner seiner Filme war in Deutschland mehr aufzutreiben. Es war möglich, die Aufführungsrechte zu klären, aber der Rechtsinhaber konnte kein Material liefern. Ich wollte nicht aufgeben und habe in Nachbarländern nach Material gesucht. Schließlich landete ich in der Schweiz bei einem Verleiher, der von allen Titeln jeweils eine untertitelte Filmkopie hatte. Und da er keine Absicht hatte, die Verleihrechte zu verlängern, fragte der mich, ob ich die Kopien nicht direkt kaufen wollte. Da fiel ich fast vom Hocker. Das hatte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können, dass ich plötzlich eigene Kopien von Filmen, die mir sehr wichtig waren, exklusiv besitzen konnte. Und dann auch noch deutsch untertitelte Fassungen von Filmen, die in Deutschland nur synchronisiert zu sehen gewesen waren. Diese Filme wurden ein fester Bestandteil unseres Programms, ich habe sie immer wieder gezeigt und über die Jahre die Sammlung um die Kurzfilme von Tati und Mitschnitte seiner – heute völlig vergessenen – Auftritte im deutschen Fernsehen ergänzt.

Und ich lernte, wie das Auswertungskonzept der Filmwirtschaft funktionierte. Liefen die Verleihrechte aus, mussten die Verleihe die Filmkopien an die Produzenten zurückgeben. Doch die meisten Produzenten hatten gar keine Lust, alte Filmkopien einzusammeln und bei sich zu Hause zu stapeln. Sie besaßen ja das Negativ der Filme, von dem man jederzeit neue Kopien ziehen konnte. Also verlangten die Produzenten von den Verleihern Nachweise darüber, dass diese die alten Filmkopien nach Lizenzablauf vernichteten. Dafür gab es spezielle Firmen, die die Filme gegen Geld entsorgten und darüber Zertifikate ausstellten. Doch in diesen Firmen gab es undichte Stellen, die die Filme nicht vernichteten, sondern heimlich an Sammler weiterverkauften und damit letztendlich ein gutes Geschäft machten, weil sie doppelt kassierten. Manche Verleiher wollten dieses Geschäft selber machen und verkauften einzelne Kopien manchmal unter der Hand direkt an vertrauensvolle Kunden. Hätte es diesen grauen Markt nicht gegeben, dann hätte es die ganze Filmarchivbewegung wahrscheinlich gar nicht geben können. Wir waren uns also durchaus bewusst, was wir taten.

Ich hielt immer etwas Geld in der Hinterhand, auch mein privates, um wichtige Filmkopien ankaufen zu können, wenn sich irgendwo eine interessante Gelegenheit bot. So ist die Sammlung sukzessive gewachsen, obwohl wir immer sehr knapp kalkulieren mussten. Wir lebten ja komplett von unseren Kinoeinnahmen, alle unsere Ausgaben mussten davon gedeckt werden. In der Anfangszeit des Kinos bezog ich noch meine Waisenrente und arbeitete ein Jahr lang ohne Gehalt, so dass die Kinemathek sich die Grundausstattung finanzieren konnte. Erst dann war ich der erste und einzige Angestellte der Kinemathek, zu dem sich dann später eine ABM-Kraft gesellte. Es gab durchaus Monate, in denen ich mein Gehalt zurückstellen musste, weil wir nicht genug eingenommen oder zu teure Ankäufe getätigt hatten. Dann musste ich sehen, dass wir im nächsten Monatsprogramm erfolgreichere Filme zeigten und die Einnahmen wieder stimmten. Wir waren alle Studenten, die aus Idealismus arbeiteten und sich selbst ausbeuteten. Einige opferten – wie ich auch – für ihre Arbeit letztendlich ihren Studienabschluss.

Memento Movie: Gab es eine Zusammenarbeit mit anderen Archiven und Kinos?

Stefan Drößler: Unsere Sammlung war von Anfang an auch darauf angelegt, mit anderen ins Geschäft zu kommen. Nach dem Motto: Wenn ich Dir eine wertvolle Kopie ausleihe, dann bekomme ich von Dir auch ein seltenes Stück, das normalerweise nicht herausgegeben wird. Die großen Archive waren an uns nicht sonderlich interessiert, die hatten ja auch keine eigene Spielstätte, für deren Programm sie Filme brauchten. Das Bundesarchiv-Filmarchiv war mir zu diesem Zeitpunkt nur als die Institution bekannt, die Dokumentarfilme und Wochenschauen sicherte und auf 16mm umkopierte. Immerhin haben DIF und SDK damals ein sehr schönes Findbuch herausgegeben, in dem ihre Verleihkopien von deutschen Filmen für die nichtgewerbliche Filmarbeit ausführlich vorgestellt wurden. Aber die interessanteren Angebote gab es ganz woanders. Verleihe wie Transit, Schorcht-Film oder Kristall-Film verfügten über deutsche Filme der 1930er, 1940er und 1950er Jahre, bei Leo Kirch lagen unzählige Filmkopien, von denen man nur durch Indiskretionen oder gezielte Nachfragen erfuhr, und das Höchste war für mich, mit Institutionen wie dem Filmmuseum München zusammenzuarbeiten, das die besten Fassungen vieler Klassiker besaß, an die aber nur schwer heranzukommen war. Da musste man regelrecht betteln, um gelegentlich eines der Münchner Unikate ausleihen zu dürfen.

Programmheft der Internationalen Stummfilmtage, die mit dem Bonner Sommerkino 1995 zusammengelegt wurden; Foto: Archiv Stefan Drößler

Ich weiß noch, wie erfreut ich war, als Enno Patalas bei uns anrief, ob ich ihm helfe könne, weil er eine Einladung nach Moskau erhalten hatte und nun kurzfristig die Visa für ihn, Frieda Grafe und Aljoscha Zimmermann bei der russischen Botschaft in Bonn beantragt werden mussten. Das habe ich gerne gemacht, weil ich wusste, dass ich dann zur Belohnung ein paar Kopien aus München ausleihen durfte. Andere, mit denen wir uns damals ausgetauscht haben, waren engagierte Kinomacher wie Udo Heimannsberg mit seinem Metropolkino in Düsseldorf, der über eine große Sammlung epischer Hollywoodfilme und 70mm-Kopien sowie ein tolles privates Kellerkino verfügte, oder Heiner Ross, der das kommunale Kino Metropolis in Hamburg aufgebaut hatte und aus Amerika eifrig 16mm-Kopien von schwer zugänglichen Klassikern und Emigrantenfilmen kaufte. Es gab damals viele kleine Kinos wie z.B. das Kino Endstation im Bahnhof Langendreer (Bochum), die profilierte Programme anboten und auch in kleinem Rahmen eigene Sammlungen zusammentrugen. Am wichtigsten war das regelmäßige Austauschen von Informationen über erfolgreiche Repertoirefilme und über die Bezugsquellen seltener Filme.

Memento Movie: War der Erhalt des Filmerbes damals ein Thema?

Stefan Drößler: Diesen heute so gern genutzten Begriff „Filmerbe“ gab es damals noch gar nicht. Und wir stellten uns die Frage auch nicht, ob man Nitrofilme aufheben soll oder nicht. Jeder Film, dessen man habhaft werden konnte, wurde aufgehoben. Und jeder Film war primär dazu da, um vorgeführt zu werden. Die langfristige Sicherung von Filmen war natürlich gewollt, aber das sahen wir nicht als unsere vorrangige Aufgabe an. Diese Haltung prägte aber nicht nur die Bonner Kinemathek, auch die Freunde der Deutschen Kinemathek in Berlin machten das so. Man könnte denen heute unter archivarischen Gesichtspunkten natürlich vorwerfen, dass sie die wertvollen Festivalkopien, die im 1971 gegründeten „Internationalen Forum des Jungen Films“ auf der Berlinale liefen und deshalb meist deutsch untertitelt waren, durch die Kinos schickten und damit letztendlich abnutzten, anstatt sie als wertvolles Sammlungsgut unter Verschluss zu halten. Die Gebühren für das Ausleihen dieser Filme waren zwar recht hoch, weil darüber die ganze Verleihstruktur der Freunde finanziert werden musste und die Filmemacher selber nicht übers Ohr gehauen werden sollten, aber es war dafür gesorgt, dass diese Filme zirkulierten und gesehen wurden. Das war das Credo von Ulrich Gregor und den anderen, und man kann gar nicht hoch genug einschätzen, was diese Haltung für die Filmarbeit in Deutschland bewirkt hat.

Enno Patalas hat im Filmmuseum München seine Filme primär für sein eigenes Kinoprogramm rekonstruiert und diese nur gelegentlich auch anderen zugänglich gemacht. Ihm ging es mehr um Tauschgeschäfte und das Aufspüren weiterer Materialien, die er für seine Rekonstruktionen brauchte. Er hat sich kaum darum gekümmert, eigene Negative herzustellen und seine Fassungen zu sichern. Patalas interessierte hauptsächlich, dass er eine Vorführkopie für sein eigenes Filmprogramm besaß, mit der er dann gelegentlich auch rumreisen konnte. Jan-Christopher Horak, der Nachfolger von Patalas im Filmmuseum München, fiel aus allen Wolken, als er entdeckte, dass von diesen teils legendären Restaurierungen jeweils nur eine einzige Kopie existierte und hat die Ausleihen von ungesicherten Unikaten sofort gestoppt. Auch in Bonn habe ich erst sehr spät damit begonnen, von einzelnen Filmen, die wir für besonders rar und wertvoll hielten, Negative zu ziehen, um sie langfristig zu erhalten.

Memento Movie: Wie sah denn das Programm der Bonner Kinemathek in den ersten Jahren aus?

Stefan Drößler: Die Brotfabrik war natürlich ein Zentrum, das aus der studentischen Kultur gewachsen war. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, nachdem wir an der Universität zwei Tage die Woche Filme gezeigt hatten und einen gut besuchten Filmklub mit sehr ungewöhnlichem Programm hatten, dass das eins zu eins in dem Zentrum auch funktionieren würde. Ich musste sehr schnell feststellen, dass ein tägliches Programm nach ganz anderen Regeln funktionierte. Wir konnten zum Beispiel nicht mehr jede einzelne Vorstellung so intensiv wie sonst mit Flugblättern bewerben. Und die Studenten waren nicht mehr vor Ort, sondern mussten erst einmal den Weg ins Kulturzentrum Brotfabrik finden. Wir mussten unsere Werbung viel weiter streuen und sehen, dass das Publikum auch aus anderen Bereichen der Gesellschaft zu uns fand. Es kamen sicher immer noch in der Mehrheit Studenten. Aber es kamen auch andere Leute, die wir mit unseren Programmen in der Universität nie erreicht haben. Also Leute jenseits der 30 oder 40 und auch noch ältere Jahrgänge, die einfach froh waren, dass sie da bestimmte Filme sehen konnten, die sonst nirgendwo liefen.

Das Bonner Sommerkino findet ab 1991 im Arkadenhof der Bonner Universität statt; Foto: Christoph Pfeiffer, Bonn

Ich erinnere mich noch, dass wir Der Indianer (1987) von Rolf Schübel gespielt haben und da war, zu unserer völligen Überraschung, das Kino drei Abende lang komplett ausverkauft. Der Indianer ist ein Dokumentarfilm über einen an Krebs Erkrankten, der am Ende stirbt – ein sehr starker, extrem suggestiver Film, den heute leider kaum noch jemand kennt. Und das war ja ein Thema, das nicht unbedingt Studenten ansprach. Jeden Monat versuchten wir, Ungewöhnliches und Einzigartiges zu präsentieren, das es zu entdecken galt. Wir hatten Premieren von Kleinverleihern, zeigten Erfolgsfilme in ungekürzten Fassungen oder in raren untertitelten Filmkopien, wir boten Filmseminare und Vorführkurse an, und es gab Kooperationen mit unendlich vielen Partnern. Wir waren immer auf der Suche nach Sachen, die noch keiner gemacht hatte. Ich weiß noch sehr gut, wie ich in einem englischen Lehrfilmkatalog Kurzfilme von Stanley Kubrick entdeckte, die Kubrick angeblich doch alle unter Verschluss hielt. Da waren tatsächlich Day Of The Fight (1951) und The Seafarers (1953) gelistet, und man konnte die Filme ganz normal ausleihen – allerdings ohne jeden Hinweis, dass die Filme von Kubrick stammten. Also haben wir die Filme aus England geholt und erstmals in Deutschland gezeigt. Da kamen Leute von sehr weit angereist, weil sie diese Filme noch nie gesehen hatten.

Ein anderes Beispiel, auch von Kubrick, war die amerikanische, ungeschnittene Fassung von The Shining (1980). Für die Aufführungen in Europa hatte Kubrick den Film gekürzt. Ich habe von einem amerikanischen Sammler eine Kopie gekauft und wir haben als erste in Deutschland die komplette Fassung aufgeführt. Da sind dann im Kölner Stadtanzeiger Artikel von Brigitte Desalm erschienen, die fragten, warum die viel größere Stadt Köln nicht so eine aktive Kinemathek hat wie Bonn. Ich hatte damals Angst, dass der Medienrummel um den ungekürzten The Shining schlafende Hunde bei Warner Brothers wecken könnte, bei denen wir die deutsche Verleihfassung bestellt hatten und die Vorstellungen abrechneten, aber denen war das alles ziemlich egal, solange die Abrechnung stimmte.

Mir war immer wichtig, und das ist genau das, was ich heute im Programm des Filmmuseums München mache: Es soll in einem möglichst kurzen Zeitraum die ganze Bandbreite der Filmgeschichte ausgebreitet werden. Man sollte die Gelegenheit haben, über eine relativ kurze Periode überall reinschnuppern zu können und eine Ahnung von der Vielfalt der Filmgeschichte, der Filmformen und -stile zu bekommen. Ich verwehre mich nach wie vor gegen den heute so gern geforderten Filmkanon mit den „Meilensteinen der Filmgeschichte“, weil für mich jeder einzelne Film nur beispielhaft für eine Entwicklung steht und jederzeit durch einen anderen ausgewechselt werden kann. Filmgeschichte hat lebendig zu sein und darf nicht auf wenige berühmte Titel verengt werden.

Memento Movie: Welchen Stellenwert hatte der frühe deutsche Tonfilm im Programm der Kinemathek?

Stefan Drößler: In den 1970er und 1980er Jahren gab es in Bonns schönstem und ältesten Kino, dem Metropol am Marktplatz, immer mittwochs um 11:00 Uhr eine Seniorenveranstaltung. Die war so gut besucht, dass es manchmal um 13:00 Uhr eine weitere Vorstellung gab. Da liefen dann Zarah-Leander-Filme, man konnte mit Glück einen der frühen Sierck-Filme erwischen und auch Harlan-Filme wie Die goldene Stadt (1942) oder Immensee (1943). Diese Filme waren offenbar ein lukratives Geschäft, es fanden in jeder größeren Stadt solche Seniorenveranstaltungen statt. Wenn ich dort hinging (ich konnte es nur in die 13:00-Uhr-Vorstellung schaffen, wenn der Schulunterricht rechtzeitig beendet war) wurde ich immer argwöhnisch beobachtet, weil ich der mit Abstand Jüngste im Publikum war. Meist haben sich die älteren Leute dann in eine andere Reihe gesetzt, damit ich nicht sehen konnte, wie sie weinten, wenn Willy Birgel mit seinem Pferd für Deutschland ritt oder Kristina Söderbaum ins Moor ging.

Birgit und Wilhelm Hein im Eingangsbereich des Kinos während des 10. Internationalen Bonner Kurzfilmfestivals Experi & Nixperi im Dezember 1988; Foto: Archiv Stefan Drößler

Für mich waren auch viele dieser nicht unter Vorbehalt stehenden Filme NS-Propagandafilme, die ich in meinem Kino niemals ohne Einführung gezeigt hätte. Aber sie außerhalb dieser Seniorenveranstaltungen zu zeigen und zu diskutieren, fand ich dennoch einen interessanten Gedanken. Also habe ich versucht, in der Brotfabrik ein alternatives Seniorenkino zu etablieren. Das war natürlich nicht einfach. Durch die langen politischen Auseinandersetzungen um die Errichtung des Kulturzentrums, über die alle Zeitungen berichtet hatten, waren viele ältere Leute eher verschreckt, wenn sie den Namen Brotfabrik hörten. Die gingen lieber in Kinos, die sie noch von früher kannten. Deswegen haben wir dann das Katholische Bildungswerk eingebunden, als vertrauensweckende Maßnahme sozusagen. Die stellten immer einen Referenten oder eine Referentin, und es wurde nach dem Film Kaffee und Kuchen angeboten, so dass man noch eine Weile zusammensitzen konnte, um über die Filme zu reden.

Die Senioren, die sich dort einfanden, waren allerdings viel aufgeklärter und moderner eingestellt als die, die ich aus dem Metropol kannte. Sie hatten nur bedingt Interesse an alten Filmen, sondern wollten mitreden können und neue Filme wie Out Of Rosenheim (1987) von Percy Adlon sehen. Da haben wir dann ein gemischtes Programm mit alten und neuen Filmen gemacht. Ich erinnere mich noch sehr genau, wie wir den ersten Teil von Die Nibelungen (1924, Fritz Lang) gezeigt haben, und dann waren es gerade die alten Leute, die gesagt haben: Bitte nicht noch einmal solch einen Schmu! Ich habe die Gespräche nach den Filmen immer sehr geschätzt, viele Leute erzählten von ihren alten Filmerlebnissen. Es gab aber auch ganz unerwartete Reaktionen. Nach der Vorführung von Porte De Lilas (1957) von René Clair drehte sich das Gespräch plötzlich darum, ob man einen Menschen umbringen darf oder nicht. Da kam das Gespräch auf die Verbrechen im Nationalsozialismus, und plötzlich sprang ein älterer Herr auf, offenbar ein ehemaliger Offizier, und verließ unter Protest das Café. Der kam dann beim nächsten Termin wieder und entschuldigte sich ganz korrekt und förmlich für seinen unfreundlichen Abgang und ist dann nie wieder gekommen.

Memento Movie: War die Bonner Kinemathek ein Gegenentwurf zu den kommerziellen Kinos und den Programmkinos?

Stefan Drößler: Von Gegenentwurf würde ich nicht sprechen, weil es mir ja immer sehr wichtig war, mich gegen die neuen Entwicklungen nicht völlig abzugrenzen, sondern diese in meine Programme zu integrieren. Filmgeschichte sollte mit Aktuellem verbunden werden, beides sollte sich gegenseitig „befruchten“, wie man so schön sagt. Wenn damals in den Kinos plötzlich die „Cannes-Rolle“ mit den preisgekrönten Werbefilmen erfolgreich war, dann haben wir alte Werbefilme ausgegraben und die Geschichte der Filmwerbung gezeigt. Die erfolgreichsten Filme bei den Bonner Stummfilmtagen waren Cirano Di Bergerac (1922), weil gerade die Neuverfilmung mit Depardieu im Kino lief, oder der deutsche Titanic-Film In Nacht Und Eis (1912), dessen restaurierte Fassung bei uns im Jahr von Camerons Titanic (1998) Premiere hatte. Jahrelang habe ich eine Sammlung von 3D-Filmen aufgebaut, inklusive der dafür benötigten Optiken, und bin damit durch die Welt gereist – lange bevor die 3D-Welle bei der Einführung des digitalen Kinos wieder aufblühte und meine Vorträge über die Geschichte des 3D-Films plötzlich überall gefragt waren. Ich wurde dann allerdings von besonders gut bezahlten Branchenevents wieder ausgeladen, weil ich mich nicht darauf einließ, in meinem Schluss-Statement über die Perspektiven des 3D-Kinos nicht von einem absehbaren Ende der 3D-Welle zu sprechen. Die Branche wollte ja allen weismachen, dass alle Leute dem 3D entgegenfieberten und künftig alles nur noch durch eine Brille sehen wollten – so wie es dann später bei der Google-Brille auch behauptet wurde und heute bei virtual reality wieder behauptet wird.

Harun Farocki und Stefan Drößler am 4. September 1990 nach der Vorführung seines Films „LEBEN BRD“ vor 700 Zuschauern; Foto: Archiv Stefan Drößler

Wir haben immer versucht, Trends und Erfolge aufzuspüren und uns diese zunutze zu machen, um diese filmgeschichtlich aufzuarbeiten und mit unseren Inhalten zu füllen. Wir wollten unsere Sicht der Dinge vermitteln, das Programm aktiv gestalten und nicht nur das zeigen, was uns die Filmverleiher gerade anboten. Das ist ein Ansatz, den auch die Filmkunsttheater der 1950er Jahre oder die Programmkinos der 1970er Jahre verfolgt hatten. Sie sahen sich nicht nur als Abspielstätten der Verleiher, die ihnen vorschrieben, wie lange sie die Erstaufführungen in ihrem Programm halten mussten, sondern sie wählten ihre Filme ganz nach ihrem Geschmack aus und wiesen ihnen festgelegte Spielzeiten zu. Daher auch der Name „Programmkino“. Es steckt immer sehr viel Arbeit hinter solch einer anspruchsvollen Programmierung und natürlich viel filmhistorisches Wissen und eine Neugier auf Unbekanntes, die man auch vermitteln können muss.

Früher hatten die großen Programmkinos, wie das Abaton in Hamburg, der Türkendolch in München oder das Woki in Bonn, ganz individuelle Programme mit selbst „kuratierten“, sehr originell und fantasievoll zusammengestellten Reihen. Heute sind sie alle Erstaufführungskinos, „Arthouse-Center“, und unterscheiden sich von Multiplexen nur noch darin, dass sie kleiner sind und statt der ganz großen amerikanischen Filme die Mittelware und europäischen Autorenfilme zeigen. Wenn ich heute in eine Stadt komme, sieht das Filmangebot überall gleich aus, ich finde kaum noch Kinos mit einem wirklich individuellen Programmkonzept, originellen Filmreihen, ungewöhnlichen „Entdeckungen“ und einem Programmheft, dass vernünftige Texte enthält, die über kurze Inhaltsangaben und Floskeln aus den Werbetexten der Verleiher hinausgehen. Selbst die Kommunalen Kinos zeigen inzwischen mehr und mehr Erstaufführungen mit mehrtägigen oder gar wochenweisen Laufzeiten. Filmgeschichte findet nur noch punktuell als special event statt.

Memento Movie: War es die Kritik an dieser Art der Programmierung, weshalb in Bonn dieses Konzept nicht weitergeführt wurde?

Stefan Drößler: Natürlich eckt man an, wenn man nicht im Mainstream mitschwimmt, gegen Erwartungen verstößt und bewusste Provokationen eingeht. Ich erinnere mich an empörte Reaktionen, dass ausgerechnet wir einen Film wie Red Dawn (1984) „ausgruben“, dessen Kinoaufführungen Linksautonome erfolgreich verhindert hatten, und dann auch noch in einer Filmreihe über Propagandafilme neben einen Revolutionsfilmklassiker wie Panzerkreuzer Potemkin (1925) stellten. Einmal wurden Flugblätter vor unserem Kinoeingang verteilt, um das Publikum darauf aufmerksam zu machen, dass wir mit „Nazis und Sex“ Geld machen wollten, weil wir den Dokumentarfilm Beruf Neonazi (1993) und in einer 3D-Vorführung Liebe In Drei Dimensionen (1972) zeigten. Als ich Leni Riefenstahl für eine Diskussion innerhalb einer Reihe mit Filmen von Regisseurinnen eingeladen hatte, um mit ihr ein Gespräch darüber zu führen, wie sie sich als Frau in den 1930er Jahren durchsetzen konnte, sind feministische Frauengruppen auf die Barrikaden gegangen und haben ihr hinter meinem Rücken einen Brief geschrieben, worauf sie ihr Kommen absagte. Ich musste einsehen, dass ein vernünftiges Gespräch nicht möglich gewesen wäre, weil diese Gruppen es mit Störaktionen verhindert hätten.

Auch als ich nach jahrelanger Vorbereitung stolz die iranische Regisseurin Rakshan Bani-Etemad im Kino vorstellen konnte und dem Publikum eine selbstbewusste Frau im Tschador präsentierte, die ihr Land nicht verlassen hatte und im Rahmen ihrer Möglichkeiten kritische Filme drehte, wurde ein Dialog von Störgruppen verhindert und die Filmemacherin bespuckt. Das waren für mich schlimme Erlebnisse, weil ich immer den Dialog mit anderen Kulturen und politischen Meinungen gesucht habe und es für inakzeptabel halte, wenn dieser nicht geführt werden kann. Ich sage immer, jeder Film, und das sage ich auch hier im Filmmuseum München, jeder Film muss bei uns laufen können, egal ob er große Kunst, politisches Pamphlet, Underground, langweilige Durchschnittsware oder schlicht Trash ist, es kommt immer auf den Kontext an, in den ich ihn stelle, und die Art, wie ich ihn präsentiere. Es ist wichtig, einen klaren Standpunkt zu haben und diesen auch offensiv zu vertreten. Man darf sich nie versnobt über Sachen erheben, die vielleicht im Moment völlig gegen die Zeitläufte schwimmen, oder sich einer vorauseilenden Political Correctness unterwerfen, die Auseinandersetzungen scheut und alles nivelliert.

Drehbuchautor Manfred Freitag und Regisseur Frank Vogel 1990 bei der Diskussion nach dem DEFA-Verbotsfilm „DENK BLOSS NICHT ICH HEULE“ im Kino in der Brotfabik; Foto: Archiv Stefan Drößler

Meine Nachfolger in Bonn werden sagen, dass sich die Zeiten eben geändert haben. Ich denke allerdings, dass ich im Filmmuseum München durchaus dieselben Programmideen verfolge wie in der Bonner Kinemathek. Natürlich auf einem anderen Level, weil ich auch unter anderen Rahmenbedingungen arbeite. Aber es ist auch gar nicht so einfach, in einer Stadt, in der fast monatlich irgendein Filmfestival oder eine Filmwoche stattfindet, mit einem eigenen Programm Aufmerksamkeit zu finden und ein Publikum für sich zu gewinnen. Trotz aller Unkenrufe klappt es, wir haben stabile Zuschauerzahlen, und es wachsen auch immer wieder jüngere Leute nach, die das Filmmuseum für sich entdecken und unsere Filmreihen und Retrospektiven besuchen. Ich bin davon überzeugt, dass man auch mit den Möglichkeiten, die der Kinemathek in Bonn zur Verfügung stehen, heute noch weit phantasievollere Programme umsetzen könnte als das inzwischen gemacht wird. Kritik an der Programmierung gab es immer, und es ist auch gut, wenn man Feedback erhält.

Memento Movie: Ist ein solches Konzept tatsächlich heute noch möglich?

Stefan Drößler: Durch die Digitalisierung ist die Verfügbarkeit alter Filme in exzellenter Qualität erheblich besser und kostengünstiger geworden. So können z.B. Stummfilme nun viel einfacher im richtigen Bildformat, in richtiger Geschwindigkeit und mit aufgenommener Musikbegleitung gespielt werden. Für Kinobetreiber ist es allerdings verlockender, den einfachen Weg zu gehen und einen aktuellen Film zu zeigen. Dieser ist wesentlich leichter und meist auch kostengünstiger zu beschaffen. Man kann sich eher darauf verlassen, dass Publikum kommt, denn das muss man nicht selber generieren, sondern das macht die Werbekampagne, die der Verleih für diesen Film zum Zeitpunkt der Veröffentlichung durchführt. Sobald ich selber ein Programm mache, muss ich ja die ganze Öffentlichkeitsarbeit selbst machen, damit die Leute überhaupt Interesse an dem Film oder der Filmreihe entwickeln können. Das ist enorme Mehrarbeit, die erfordert viel Zeitaufwand, filmhistorische Kenntnisse, Bereitschaft zu Recherche und die Fähigkeit, spannende Texte zu finden oder zu schreiben, die Lust auf die Filme machen.

Über die Jahrzehnte ist es interessant zu sehen, welche Leute mit großem Engagement ihre Arbeit begonnen haben und dann konsequent bei der Sache geblieben sind oder die eigenen Ansprüche sukzessive aufgegeben haben. Wobei ich damit nicht meine, dass man sich und seine Ideen nicht weiterentwickeln muss. Natürlich kann man die Kinoprogramme der 1980er und 1990er Jahre heute nicht mehr genauso machen, die Ideen müssen natürlich auf die jeweilige Zeit und das Publikum bezogen werden. Gerade Bonn hat sich ja auch verändert. Der Regierungssitz ist nach Berlin verlagert worden, und damit ist ein ganzer Tross von Journalisten, Lobbyisten, Behörden und Botschaften abgewandert, mit dem man früher erfolgreich kooperieren konnte. Das Engagement der Telekom, die als Ausgleich in Bonn angesiedelt wurde, schlägt sich weniger im Kulturbereich nieder als im Sport (das Team Telecom bzw. Team T-Mobile war führend im Radsport und Doping, die Telekom Baskets Bonn in der Basketball-Bundesliga). Geblieben sind die Studenten und die Universität, die die Stadt prägen. Als guter Programmmacher muss man immer flexibel sein, sich auf neue Gegebenheiten einstellen und sich mit diesen auseinandersetzen, ohne seine eigenen Werte und Überzeugungen aufzugeben. Darauf kommt es an, insbesondere wenn man sich jenseits der Trampelpfade bewegt.

Memento Movie: Wie steht es heute, im Zeitalter digitaler Kinoprojektion, um die großen Sammlungen von 35mm Kopien, wie z.B. die der Bonner Kinemathek?

Stefan Drößler: Leider wurde das Filmarchiv in Bonn nach meinem Weggang 1999 nicht aktiv weitergeführt. Es wurden kaum noch Kopien angekauft, die Lagerbedingungen verschlechterten sich dramatisch, wertvolle und ungesicherte Kopien wurden durch häufige Ausleihen abgenutzt und beschädigt. Die Sammlung ist kannibalisiert. Es ist traurig, dass es mir nur gelungen ist, ein paar der wertvollsten Kopien nach München zu holen, wo sie für Restaurierungen genutzt werden. Die Bonner Kinemathek besitzt unzählige 35mm- und 16mm-Kopien von Lang- und Kurzfilmen. Für einige Archivkinos, Filmclubs und Filminitiativen, die noch analoge Vorführmöglichkeiten besitzen, ist dieser Bestand eine nützliche Bezugsquelle, aber das wird sich mit der Zeit erübrigen. Wenn ich den Anspruch habe, einen Film in einer möglichst guten und ursprünglichen Form zu zeigen, kann ich oft nicht mehr guten Gewissens eine alte, gebrauchte und verschlissene Filmkopie vorführen und die unübersehbaren Schäden des Materials dem Publikum gegenüber damit rechtfertigen, dass es sich um etwas ganz Tolles, nämlich eine ganz seltene 35mm-Kopie handele. Manche Filmemacher verbeten sich inzwischen sogar, dass man von ihren Filmen noch eine analoge Kopie zeigt. Wim Wenders oder Christian Wagner möchten, dass ihre Filme Der Himmel Über Berlin (1987) und Wallers Letzter Gang (1989) nur noch digital vorgeführt werden, weil in den Kinokopien die Schwarzweißteile aus Kostengründen nur auf Farbmaterial kopiert wurden und deshalb in der Zeichnung schrecklich aussahen und keine Farbneutralität aufwiesen.

Es ist rückblickend ganz erstaunlich, dass das Kinopublikum Schäden wie Laufstreifen, verregnete Akt-Enden, verrauschten Ton, Bild- und Tonsprünge, veränderte Farben bis zum alles dominierenden Rotstich, flaue Kontraste und ähnliches immer hingenommen und toleriert hat. Das hätte man bei keiner anderen Kunstform durchgehen lassen. Wenn eine Schallplatte einen Kratzer hatte und beim Abspiel knackste, galt sie als beschädigt. Wenn bei einem Gemälde oder einer Plastik eine Ecke abgebrochen wäre, hätte es einen Aufschrei gegeben. Wenn im Kino im Film plötzlich ein halber Dialogsatz fehlte oder Schwarzfilm einen Bildriss im Negativ ausglich, gehörte es eben dazu, weil es „nur“ Film war. Dass sich da die Wahrnehmungen im digitalen Zeitalter verändert haben und sich inzwischen die Zuschauer beschweren, wenn sie eine stark abgenutzte oder in der Bildqualität sehr mäßige Kopie geboten bekommen, sehe ich als Fortschritt. Solche unerwünschten Artefakte wären bei der Filmpremiere von den Machern nie toleriert worden! Das hat natürlich als Konsequenz, dass es nicht mehr darauf ankommt, irgendeine Kopie eines Films zu zeigen, sondern eine möglichst tadellose Version von der vollständigsten und besten Fassung. Viele Zuschauer haben eigene Filmsammlungen auf DVD, Blueray oder Festplatten zu Hause und erwarten von uns keine Vorführungen minderwertiger Kopien.

1994 vor dem Kinoeingang: Stefan Drößler und Sigrid Limprecht, die ab 1990 in der Bonner Kinemathek mitarbeitete und 1999 deren Leitung übernahm; Foto: Christoph Pfeiffer, Bonn

Ein schönes Beispiel, das verdeutlicht, wie sich die Ansprüche verändert haben: Anfang der 1970er Jahre wurden in den deutschen Programmkinos die Filme der Marx-Brothers „entdeckt“, die nie in den deutschen Kinos zu sehen gewesen waren. Die AG Kino verlieh 16mm-Kopien der wichtigsten Titel der 1930er Jahre. Wir haben bei der Auflösung des Woki in Bonn neuwertige, ungebrauchte Auswechselakte dieser Kopien gefunden, die ich natürlich sofort stolz der Sammlung einverleibt habe. Die frühen Spielfilme der Marx-Brothers sind im alten Tonfilmformat, dem fast quadratischen 1:1.19, gedreht, und wenn man die auf 16mm umkopiert, dann werden sie in der Höhe gewaltig beschnitten. Dazu haben sie einen reduzierten Lichtton, oft noch Sprossenlichtton ohne remastertes Tonzwischennegativ, so dass der Ton rauscht und verzerrt – und man die Dialoge kaum verstehen kann. So etwas kann und will ich heute hier bei mir im Filmmuseum München keinem mehr zumuten. Aber erstaunlicherweise sind die Filme damals im Kino so entdeckt worden und niemand störte sich an der grenzwertigen Qualität der Filmkopien.

Die „guten alten analogen Zeiten“ waren durchaus keineswegs so gut, wie das manche Nostalgiker glauben machen wollen. Es gab „Premierenkopien“, die mit Sorgfalt gezogen wurden, und „Massenkopien“ für den Markt, die eben nicht so gut aussahen. Ab den 1970er Jahren wurden in Hollywood kaum noch Kopien vom Kameranegativ gezogen, sondern von Dup-Negativen, die in der Bildqualität zwei Generationen schlechter waren. In den 16mm-Katalogen der Filmverleiher waren ältere Farbfilme von Frank Tashlin, Michael Curtiz oder Douglas Sirk nur als Schwarzweißkopien verfügbar oder Cinemascope-Filme mit Mehrkanalton wie die Klassiker mit James Dean nur in umkopierten Pan&Scan-Kopien mit Monoton, ohne dass diese Veränderungen als solche ausgewiesen wurden. François Truffauts in Cinemascope gedrehter Debütfilm Les Quatre Cent Coups (1959) ist in Deutschland jahrzehntelang nur im umkopierten Normalformat gezeigt worden. Als ich der Witwe von Truffaut, Madeleine Morgenstern, bei ihrem Besuch in Bonn davon erzählte, war sie entsetzt und wollte es gar nicht glauben!

Memento Movie: Welche Rolle spielt die Bonner Kinemathek heute? Wie sehen Sie die digitale Zukunft des Kinos?

Stefan Drößler: Ich sehe die digitale Zukunft nicht so negativ wie andere Kollegen. Vorführpannen werden reduziert, die technische Qualität der Filme bleibt auch nach vielen Vorführungen absolut gleich, es sind mehr Originalfassungen mit Untertiteln verfügbar, die Versandkosten von Kopien reduzieren sich. Selbstverständlich schätze ich auch die Schönheit einer tadellosen 35mm-Kopie, die perfekt vorgeführt wird, doch ist dies heute schon ein teurer Luxus, den sich nur wenige Kinematheken und Museen leisten können. Ich gehe davon aus, dass wir im Filmmuseum München noch lange Zeit auch analog vorführen werden, weil wir eben nicht nur die bekannten Titel spielen und seltene Filme, die nur wir und ein paar befreundete Kinematheken und Filmmuseen im Ausland zeigen, noch sehr lange nicht – und vielleicht sogar nie – digitalisiert werden. Doch schon heute merken wir, dass es schwerer wird, fähige Techniker zu finden, die die analogen Projektoren und Schneidetische reparieren können und Ersatzteile auftreiben. In der Bonner Kinemathek, die sich jetzt „Arthauskino“ nennt und als „Außenstellen“ auch das LandesMuseum und die Bundeskunsthalle „bespielt“, gibt es nur noch einen Vorführer, der analog vorführen kann. Filme aus der eigenen Sammlung laufen in Ausnahmefällen. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass man die Filmsammlung, die guter Lagerbedingungen und einer sorgfältigen Pflege bedarf, nach Düsseldorf auslagert und nun durch die örtliche Entfernung noch weniger darauf zurückgreifen wird. Für die Stummfilmtage, bei denen etwa die Hälfte der Filme heute noch analog laufen, werden schon seit Jahren Vorführer von außerhalb angeheuert. Und da bemerke ich mit Schrecken, dass die kleinen Unachtsamkeiten beim Vorführen zunehmen, weil auch diese Vorführer es vom digitalen Kino nicht mehr gewohnt sind, dem Bild auf der Leinwand mit voller Aufmerksamkeit zu folgen.

Das Interview wurde am 23. September 2016 telefonisch geführt

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