Jaques Derrida verortet in seiner Revision der Psychoanalyse „Mal d’archive“1 die Anfänge des Archivs in Griechenland. Die Entstehung des Archivs sieht er begründet in der Notwendigkeit, „das Gesetz geltend zu machen“. Hierzu muss selbiges aber dokumentiert und archiviert werden. Doch im aktuellen Diskurs über Archive wird diese Argumentation, die mit der doppelten Bedeutung des Wortes „Arché“ spielt, das sowohl Anfang als auch Gebot bedeutet, wegen ihrer semantischen Einengung zunehmend kritisiert. Denn für Derrida ist das Archiv – nach Cornelia Vismann2 – der Anfang von Gesetzesherrschaft, die Macht des Auslegens – man könnte auch sagen, die Macht des Präsentierens.
Derridas stark etymologisch verfahrende Suche nach den Anfängen des Archivs bleibt letztlich zu sehr dem Text – insbesondere Gesetzestexten und ihren Geltungsansprüchen – verbunden. Dies überrascht nicht, denn sein eigentliches Interesse gilt ja Freuds Konstruktion der Psyche, ihren inneren Organisationsprinzipien wie Selektion, Selbstorganisation, Ablage und Zugänglichkeit sowie deren Nachhaltigkeit. Historisch sind die Ursprünge des – textbezogenen – Archivs aber wohl eher in Rom zu finden als in Griechenland; und Archivkonzepte jenseits ihres Niederschlags in Sprache finden sich schon weit früher.
Die ältesten Archiverzählungen gelten dem Naturerbe. Die bekannteste ist die Geschichte der Arche Noah. Noah wurde der biblischen Überlieferung gemäß von Gott (Jahwe) auserwählt und vorgewarnt und rettete daraufhin in der selbstgebauten Arche seine Familie. An dieser frühen Archivkonstruktion lassen sich bereits einige exemplarische Prinzipien identifizieren.
Paradoxerweise erfordert die historische Rede über das Archiv selbst ein Archiv und somit unterliegt die Beschäftigung mit dem Archiv einer doppelten Täuschung. Das Archiv, das selbst unter bestimmten historischen Bedingungen entstand und dessen Konstruktion und Überlieferungen selbst immer schon gesellschaftlichen Imperativen folgte, soll in einem historischen Rekurs Auskunft über sich selbst geben. Ein gewagtes Unterfangen, das nur über die Freiheit der Interpretation gelingen kann.
Edward Hicks: Noah’s Ark. 1846. Öl auf Leinwand. Philadelphia Museum of Art. Abbildung: Wikimedia Commons (Public Domain)
Edward Hicks, ein streng religiöser Prediger, finanzierte sich seine Reisen und Missionen mit der Malerei. Sein Gemälde der Arche Noah aus dem Jahre 1846 kann man als Visualisierung einer Archivkonzeption betrachten. Es fällt auf, dass das Konzept der Arche völlig der Natur geschuldet ist; Kultur bleibt außen vor.
Im Bild findet man alle Elemente der modernen Archivkonzeption wieder:
- Sicherung des Erbes
- Klassifikation als Voraussetzung und Ordnungsprinzip
- Selektion und Ingest als selbstständiger Prozess (Belegexemplar oder Pflichtabgabe)
Medienästhetisch ist interessant, dass der Löwe direkt auf den Aufnahmeort blickt. Der Blick in die Kamera, filmgeschichtlich ein sehr früher Topos, verschwand im Zuge der Narrativisierung des Films fast völlig, überlebte aber als wichtige Authentizitätsstrategie im Dokumentarfilm. Dieser Blick steht hier ebenfalls für Authentizität und inszeniert einen dokumentarischen Beobachterstatus inmitten der apokalyptischen Inszenierung. Auch medienstrategisch ist das Gemälde bedeutsam, da es durch das Zeigen des Archivs sich selbst als Teil eines noch zu schaffenden Archivs positioniert, um dem eigentlichen Archiv überhaupt eine Bedeutung geben zu können. Es behauptet, dass das, was es zeigt, wichtig sei, und weil es dies zeigt, ist es selbst wichtig – und müsste daher auch archiviert werden. Es trägt so in gewisser Weise zur Konstituierung seiner eigenen Archivierung bei.
Inhaltlich interessant sind aber zwei weitere Elemente: die Unsichtbarkeit der Ordnung jenseits des Menschen und das Konzept der Reproduktion als Maxime der Überlieferung.
Vergegenwärtigt man sich die organisatorische Dimension einer Rettung der Tierwelt, so überrascht die fast völlige Abwesenheit von äußerer Organisation. Ob die Kette der Tiere einem Konzept von vernünftiger Selbstorganisation oder göttlicher Eingebung folgt, sei dahingestellt. Offensichtlich ist aber das Fehlen jeglicher autoritativer Ordnungsversuche. Dazu passt, dass kaum sichtbar am Rande die Silhouetten von zwei Menschen zu sehen sind. Sie besitzen lediglich einen Beobachterstatus, vielleicht nicht einmal das. Der Garant eines erfolgreichen Archivs scheint die Zurückdrängung des Menschen zu sein.
Das Konzept der Reproduktion ist zentral für die Arche Noah. Jeweils zwei Exemplare einer Gattung sollen das Überleben sichern. Die Bedeutung der Reproduktion gilt auch für Archive. Sie war neben der Sicherung schon immer eine Maxime der Überlieferung. Denn: Alles zerfällt – irgendwann. Nur durch Abschreiben konnte im Analogen zumindest die Information eines Textes überleben; in der Malerei kennen wir Werke, die nur als Kopie und somit Fälschung überlebt haben. Im audiovisuellen Bereich ist bis in die heutige Zeit hinein das Kopieren von Kinofilmen gängige Praxis. Vor dem Zerfall des alten Materials soll der Inhalt auf neues, besseres Material hinübergerettet werden.
Gleichzeitig findet sich hier ein ausdifferenziertes Archivmodell, das bis heute Bestand hat: Auf der einen Seite, der unbarmherzige Kampf ums Original, der doch irgendwann verloren sein wird; auf der anderen Seite die phänotypische Reproduktion, die im Digitalen ihre Entsprechung hat und dort keine Differenz mehr kennt.
Das Konzept der Arche Noah, so viel lässt sich sagen, besitzt Modellcharakter: Es antizipiert und verankert archivarische Prinzipien, nämlich Selbstorganisation und Reproduktion von Information als zentrale Verfahren.
Vordereingang des „Svalbard Global Seed Vault“. Foto: Mari Tefre / Svalbard Global Seed Vault
Heute wird das Konzept der Arche Noah mit dem „Svalbard Global Seed Vault“ leicht geändert reinszeniert. Dieser Saatguttresor wurde 2008 fernab menschlicher Zivilisation in Spitzbergen eröffnet. Der Permafrost soll die Samen schützen, selbst wenn der Strom zur Kühlung einmal ausfallen sollte. Die Kosten lagen bei 30 Millionen Euro und wurden größtenteils finanziert von der „Bill & Melinda Gates“-Stiftung, aber – auch wenn dies auf der offiziellen Webseite nicht erwähnt wird – unter Beteiligung des umstrittenen Saatgutkonzerns Monsanto und anderer kommerzieller Geldgeber.
Das offizielle Ziel ist die Aufbewahrung der wichtigsten Kulturpflanzen – Mais, Weizen, Reis, Kartoffeln und so weiter – und ihrer Sortenvielfalt. Auch hierbei handelt es sich um ein Naturarchiv. Wir finden die allgemeinen Prinzipien eines Archivs wie Akquise, Katalogisierung, Access und Preservation, doch es gibt bedeutsame Akzentverschiebungen. Der Fokus dieses Archivs, das in den Medien sofort als moderne Arche Noah beschrieben wurde, liegt ganz eindeutig auf Erhaltung und Preservation. Dies geht soweit, dass der Mensch als Bedrohung identifiziert wurde und die komplette Anlage ohne Personal funktioniert – sie wird von Schweden aus fernüberwacht.
Die praktische Nutzung basiert auf dem Black-Box-Prinzip. Samen werden aus allen Ländern archiviert. Es handelt sich um Kopien existierender Samen, die verstreut in diversen Genbanken unterschiedlichster Länder gelagert werden. Insofern ist das Saatgutarchiv eine Art Backup. Konsequenterweise ist der Zugang zu den Samen nur über die jeweiligen lokalen Genbanken möglich. Der Betreiber hat keine Rechte an den Inhalten, die Lagerung selbst ist für die Einlagerer kostenfrei. Die norwegische Regierung und ein Trust übernehmen die Kosten.
Screenshot Maisgenom. Quelle: Reuters
Der Svalbard Global Seed Vault ist in dieser Form Teil eines globalisierten, ausdifferenzierten Archivdiskurses. Er repräsentiert ein Extrem der Archiventwicklung unter den Bedingungen der Globalisierung und verloren gegangener Biodiversität: Nämlich den radikalen Schutz und die Sicherung der Inhalte bei praktisch nicht vorhandenem Zugang.
Am selben Tag, als das Saatgutarchiv am 26. Februar 2008 eröffnet wurde, berichtete die Nachrichtenagentur Reuters, dass Biologen der Washington University erfolgreich das Maisgenom sequenziert hätten. Die Kosten dafür lagen in der derselben Größenordnung wie der Bau des Saatgutarchivs. Interessant ist aber, wie mit diesen Informationen umgegangen wird. Die komplette genetische Information ist in einer Gendatenbank frei verfügbar; die Betreiber versuchen somit, das Konzept von freiem Wissen und Zugänglichkeit umzusetzen.3
Was man im Bereich der Naturarchive also beobachten kann, ist eine starke Ausdifferenzierung von Aufgaben klassischer Archive wie etwa Sicherung und Zugänglichkeit, die nun auf unterschiedliche Institutionen verteilt werden. Es entstehen neue Institutionen, die den Fokus auf Sicherung legen und vom Menschen abgekoppelt sind. Andere stellen Access und Distribution in den Vordergrund. Beide Entwicklungen teilen die globalisierte Perspektive und beide verweisen auf einen Schlüsselbegriff moderner Archive: Information.
Sowohl die Arche Noah als auch der Saatguttresor und die Gendatenbank definieren ihren Archivanspruch über die genetische Information und ihre Reproduzierbarkeit. Im Konzept der Arche Noah ging es nie um Individuen (phänotypische Sicherung), sondern um die genotypische Reproduktion von Natur über Generationen hinweg. Dieses Konzept ist implizit bei der Arche Noah und dem Saatgutarchiv angelegt und explizit bei der Gendatenbank.
Doch lassen sich diese drei Schlüsselbegriffe – institutionelle Ausdifferenzierung, Information und Reproduktion – umstandslos auf die institutionalisierten Träger des kulturellen Erbes, die Archive, Bibliotheken und Museen übertragen und sagen sie überhaupt etwas aus in diesem Kontext? Und gibt es arbeitsteilige Konzepte von Access und Sicherung?
Für die institutionelle Ausdifferenzierung ist dies noch am einfachsten zu beantworten: Die Archivierung von digitalen Artefakten – seien es Digitalisierungen analoger Objekte oder digital entstandene Produktionen – wird von den Archiven selbst zunehmend in andere Institutionen ausgelagert. Die Bayerische Staatsbibliothek etwa arbeitet zur digitalen Archivierung mit dem Leibniz-Rechenzentrum zusammen, die Deutsche Kinemathek mit dem Konrad-Zuse-Institut. In diesen riesigen Tape Libraries lagern Filme neben astrophysikalischen Daten. Traditionelle Archive können sich die benötigte Infrastruktur aber weder leisten, noch besitzen sie die dafür notwendige Expertise.
Auch der Bereich des Access hat sich fast völlig auf das Netz verlagert. Große Portale wie die Europeana sollen Informationen zu digitalen Artefakten versammeln. Die institutionelle Ausdifferenzierung, die Auslagerung von klassisch-archivarischen Aufgaben an kooperiende Institutionen, hat also längst stattgefunden, wenn auch weitgehend unbemerkt. Grundsätzlich ist dagegen nichts zu sagen, im Gegenteil, sie ist unverzichtbar.
Die Reproduktion als zentrale Idee der Arche Noah wie auch des Saatgutarchivs sichert das Überleben; im digitalen Bereich bedeutet die unendliche Reproduzierbarkeit erstmals die Möglichkeit einer unendlichen Archivierungsdauer, denn das jederzeit mögliche verlustfreie Kopieren der digitalen Sequenzen bindet die Langzeitarchivierung erstmals nicht mehr an die Lebensdauer eines physischen Mediums.
Doch diese im Prinzip unbegrenzte Archivierbarkeit besitzt drei Einschränkungen. Sie benötigt einen hohen Kontrollaufwand und ausgeklügelte technische Verfahren mit redundanten Ebenen zur Sicherstellung der verlustfreien Reproduktion. Das macht sie sehr teuer und führt zur unbequemsten Frage überhaupt: Wie viel ist uns der Langzeiterhalt von digitalen Artefakten wert?
Hinzu kommt ein weiteres Problem: Der traditionelle Archivzyklus von Konservierung, Qualitätssicherung und Restaurierung oder Kassation funktioniert im Digitalen nicht mehr.
Digitale Archivierung kennt kein Altern (im traditionellen Sinne) mehr. Der langsame Prozess der kontinuierlichen Abnahme der Qualität analoger Medien, das Ausbleichen der Farben hat kein Pendant im Digitalen: Plötzlich funktioniert die DVD einfach nicht mehr. Die Auswirkungen falscher Bits und Bytes sind unberechenbar: Ein einziges gekipptes Bit kann ein Bild völlig „unlesbar“ machen. Diese Eigenart des Digitalen wird zwar zunehmend abgefangen, bleibt aber dennoch essentiell.
Das dritte Paradigma der Arche Noah ist das der Information. Biologische Langzeitsicherung basiert auf der Weitergabe biologischer Information. Auch die digitale Langzeitarchivierung scheint ihre Nachhaltigkeit der Trennung von binärer Information und dem physischen Medium zu verdanken. Dies ist wohl der Preis, den man zahlen muss, und der Verlust jeglicher physisch begründeter Materialästhetik zählt dazu.
Doch kann man genetische Codes oder digitalen Code überhaupt als Information betrachten? Die aktuelle Diskussion weist diese Vorstellung zurück, insbesondere wegen der Unschärfe des Informationsbegriffes. So hat der Wissenschaftler Sascha Ott 2004 eine Recherche zum Informationsbegriff gemacht und konnte über 80 verschiedene Begriffe von Information identifizieren.4
Insbesondere der Philosoph Rafael Capurro kritisiert einen signaltheoretischen Informationsbegriff, der in den Morsezeichen seinen Ursprung hat und Information nur als Abfolge von Codes begreift. Dem entgegen stellt er einen Informationsbegriff, der in ein diskursives Umfeld eingebettet ist, also eine semantische und pragmatische Dimension besitzt. Information existiere immer als Teil von Kommunikation. Denkt man dies weiter, erwachsen hieraus völlig neue Aufgaben für Archive. Dann ist es längst nicht mehr hinreichend, sich auf Informationen – digitale wie analoge – zu beschränken, sondern die Kontextualisierung und die Kommunikation um diese Information herum werden zentral. Damit rückt aber eine Dimension in den Vordergrund, die bisher nur unzulänglich betrachtet wurde. Sprache wird zentral als Schlüssel zum Verstehen von Information und ist doch selbst historisch. Sie bedarf der Erläuterung und Interpretation. Wie aber kann man Sprache erläutern außer durch Sprache? Auch die Arche Noah liefert dafür keine Antwort.
1. Derrida, J.: Mal d’archive. Paris 1995. Dt. Ders.: Dem Archiv verschrieben. Berlin 1997.
2. Vismann, C.: Arché, Archiv, Gesetzesherrschaft. In: Ebeling, K./Günzel, S.: Archivologie. Berlin 2009, S. 89ff.
3. Vgl. Zea Mays, http://ensembl.gramene.org/Zea_mays/Info/Index (Letzter Aufruf: 30.09.2014).
4. Ott, S.: Information. Zur Genese und Anwendung eines Begriffs. Konstanz 2004.
Dieser Text stellt eine von mir aktualisierte Fassung dar. Der Ursprungstext erschien u.a. in:
Deutsche Digitale Bibliothek: Hintergrund (2015)