Wider die METROPOLISierung des Filmerbes

Zum 10. UNESCO-Tag des Audiovisuelles Erbes

Diesen Montag wird weltweit der Tag des Audiovisuellen Erbes (27. Oktober) als einer von unzähligen UNESCO-Welttagen begangen. Zumindest theoretisch. Seit er im Jahr 2005 zum 25. Jahrestag der „Empfehlung zum Schutz und zur Erhaltung bewegter Bilder“ eingerichtet worden ist, hat dieser Welttag kaum dazu beigetragen, für die Belange des Audiovisuellen Erbes in der Öffentlichkeit zu werben – auch, weil die betroffenen Gedächtnisorganisationen ihn nur zurückhaltend nutzen. Das Problem sind aber gar nicht die Filmarchive und -museen, da diese ohnehin nur eine begrenzte und oft bereits sensibilisierte Öffentlichkeit erreichen – das Problem ist die Passivität von Filmemachern und -produzenten. Diese müssten eigentlich ein großes Interesse an der Erhaltung und der Zugänglichkeit des Filmerbes (hier äquivalent-verkürzend für Audiovisuelles Erbe) haben, die einen weil sie aus der Filmgeschichte lernen und in sie eingehen wollen, die anderen, damit sie auch in Zukunft noch an den alten Filmen verdienen können. In Deutschland scheint die Branche sich aber regelmäßig im Kleinklein des Förderdschungels zu verzetteln und dabei die großen Fragen aus den Augen zu verlieren. Wo ist denn der deutsche Martin Scorsese? Letzterer gründete in den USA schon 1990 The Film Foundation, um Gelder zur Restaurierung von Filmen und zur Entwicklung von Materialien der pädagogischen Filmvermittlung einzuwerben. Nicht einmal die beiden deutschen Mitglieder von Scorseses World Cinema Project, Fatih Akin und Wim Wenders, lassen sich dazu herab, wie Scorsese ihre öffentlichen Auftritte dafür zu nutzen, auf den prekären Zustand des Audiovisuellen Erbes hinzuweisen und sich als Gesichter einer entsprechenden Kampagne zu dessen Erhalt einspannen zu lassen.

Gleichwohl sind Akin und Wenders natürlich nicht Schuld am bisherigen Scheitern des Welttag-Konzepts; keiner der existierenden Welttage hat, wenn man ehrlich ist, eine sonderliche Schlagkraft in der breiten Öffentlichkeit entwickeln können – weder der Internationale Tag der Muttersprache (21. Februar) noch der Welttag der Poesie (21. März). Während das 1972 beschlossene Welterbeprogramm der UNESCO mit seinen über 1000 Natur- und Kulturstätten durchaus als großer Erfolg für deren Erhaltung und touristische Nutzung bezeichnet werden kann, ist das 20 Jahre später installierte Dokumentenerbe mit dem schönen Kosenamen „Memory of the World“ nicht annährend gut in der Gesellschaft angekommen. Seit 2001, als Fritz Langs METROPOLIS (1927) aufgenommen wurde, gehören zum Weltdokumentenerbe auch audiovisuelle Materialien, darunter einige weitere Spielfilme. Aber selbst unter Filmwissenschaftlern finden sich nur wenige, die davon wüssten, dass Luis Buñuels LOS OLVIDADOS (1950) oder das moderne amerikanische Märchen THE WIZARD OF OZ (1939) oder der angeblich erste Langspielfilm THE STORY OF THE KELLY GANG (1906) aus Australien zum UNESCO-Dokumentenerbe gehören. Während es bei Aufnahmen wie denen von Ulbricht, als er verkündet, dass niemand beabsichtige, eine Mauer zu bauen, oder von Schabowski, der dieselbe aus Versehen für geöffnet erklärt, ziemlich einsichtig ist, von Dokumenten zu sprechen (sie gehören mit 13 weiteren seit 2011 unter dem Titel „Bau und Fall der Berliner Mauer und der Zwei-Plus-Vier-Vertrag“ zum „Gedächtnis der Menschheit“), birgt die Wahl von Spielfilmen wie METROPOLIS gewisse Probleme.

Gerade Spielfilme existieren meistens in einer Vielzahl von Versionen, was teils mit den Besonderheiten der Filmproduktion, teils mit Vorgängen wie Zensur oder Selbstzensur und teils mit materiellen Faktoren zu tun hat. Das International Advisory Committee (IAC) der UNESCO hatte deshalb die weise Empfehlung abgegeben, alle verfügbaren Kopien und Rekonstruktionen von METROPOLIS ins Welterbe aufzunehmen. Aufgrund eines Gutachtens des damaligen Generalsekretärs der Internationalen Vereinigung der Filmarchive (FIAF) Roger Smither, der aus der Nichtexistenz eines klar bestimmbaren Originals genau die falschen Schlüsse zog, legte sich die UNESCO aber letztendlich auf eine ganz bestimmte Fassung fest und machte nur das neu gezogene Negativ der 2001 bereits mit Hilfe digitaler Werkzeuge erfolgten Restaurierung zum Dokumentenerbe – so steht es in der entsprechenden Urkunde. Dies widerspricht inzwischen international gültigen Filmstandards, nach denen ein Werk wie METROPOLIS eben in verschiedenen Varianten und Manifestationen existiert, die aber alle zusammen das Werk ausmachen. Und es hat zur Folge, dass die 2008 unter großer medialer Aufmerksamkeit in Buenos Aires wiederentdeckte Manifestation einer Variante von METROPOLIS – eine stark zerstörte 16mm-Kopie des Exportnegativs, das im Gegensatz zum deutschen und US-amerikanischen Negativ des Films nicht gekürzt worden war – nicht unter die UNESCO-Definition fällt. Das bedeutet, dass die neue Restaurierung von 2010, die diese Materialien mit verarbeitet hat und auf der Berlinale uraufgeführt worden ist, nicht mehr Welterbe ist. METROPOLIS, so wie er heute vorgeführt und verkauft wird, gehört nicht mehr zum Gedächtnis der Welt. Die UNESCO hat das nur noch nicht gemerkt.

Die Kanonisierung, hier im Rahmen eines UNESCO-Programms, ist neben der Institutionalisierung und der Digitalisierung eines der drei großen Problemfelder des Audiovisuellen Erbes. Als auf der Berlinale 2014 die neueste Restaurierung von DAS CABINET DES DR. CALIGARI (1920) aufgeführt wurde, wagte Jan-Christopher Horak die ketzerische Frage, warum man in Deutschland eigentlich diese Leuchtturm-Kulturpolitik betreibe und immer dieselben Filme restauriere, während hunderte von Nitratkopien in den Archiven verrotteten. Horak leitete einst das Filmmuseum München, ist aber seit einigen Jahren Direktor des UCLA Film & Television Archives in Los Angeles, eines der bedeutendsten seiner Art in den USA. Die Amerikaner haben auf verschiedenen Ebenen einen vielseitigeren Zugang zur Kanonisierung ihres Filmerbes. So spielt beispielsweise der Begriff der „Orphans“ – also der „verwaisten“ Filmgattungen, -genres, -materialien, -werke – eine wesentlich größere Rolle. Nicht wenige in Deutschland verstehen unter Filmerbe hingegen nur die Kinospielfilme oder machen andere Einschränkungen. Das deutsche Paradox ist, dass der Film einerseits noch nie zur alles entscheidenden Hochkultur gezählt wurde, andererseits aber hochkulturelle Maßstäbe an ihn gelegt werden. Das führt auch dazu, dass entsprechende Listen, was eigentlich zum deutschen Filmerbe zu zählen und demnach unbedingt zu erhalten ist, von Experten unter Ausschluss der Öffentlichkeit festgelegt werden. In den USA dürfen und sollen alle Vorschläge für das National Film Registry machen und über diese abstimmen. Nur so kann man die Öffentlichkeit überhaupt für das Thema interessieren.

Die konsequente Wertschätzung des Films als Leitkultur des 20. Jahrhunderts und damit auch als Mittelpunkt der nationalen US-amerikanischen Kultur ganz allgemein ermöglicht in den USA darüber hinaus ein Mäzenatentum für den Film, das in Deutschland zwar für alle möglichen traditionellen Arten von Kunst inkl. der Fotografie funktioniert, aber eben überhaupt nicht für den Film. Ein jüngeres Ergebnis dieses Mäzenatentums ist der Packard Campus for Audio-Visual Conservation in Culpeper, Virginia. Dieser 2007 eröffnete Bau der Library of Congress, in dem erstmals alle audiovisuellen Materialien (Film, Fernsehen, Radio, Schallplatten usw.) gemeinsam archiviert werden und zugänglich sind, wurde möglich gemacht durch eine Spende über 150 Millionen Dollar des Packard Humanities Institute, einer der wohlhabendsten Stiftungen weltweit auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften. Der Stifter, David Woodley Packard, 1940 geboren, ist ein Klassischer Philologe, der verhindern möchte, dass von der US-amerikanischen Kultur genauso wenig übrig bleibt wie von den altertümlichen Kulturen, mit denen er sich beruflich beschäftigt. Daher sein Engagement für das Audiovisuelle Erbe. Woher kommt aber der Reichtum der Stiftung? Ganz einfach: David Woodley Packard ist der Sohn von David Packard, dem Mitbegründer von Hewlett-Packard, der zumindest symbolischen Gründungsfirma des Silicon Valley. Wir haben es hier also mit einer glücklichen Kombination von Kapitalismus und Kultur, oder genauer: von Computertechnologie und Philologie zu tun, mit einer Variante der Digital Humanities, die sicherlich typisch für die USA ist, gleichzeitig Grund und Ausdruck ihrer hegemonialen Dominanz.

Aber auch unsere europäischen Nachbarn laufen uns teilweise den Rang ab, wenn es um das Filmerbe geht, und da muss man gar nicht auf die bekanntermaßen filmbegeisterte Grande Nation schauen, es reicht ein Blick nach Österreich, wo das Filmarchiv Austria, das 2004 vor den Toren Wiens ein technisch modernes und materiell nachhaltiges Zentralfilmlager mit einem Nitrofilmdepot gebaut hat, in das beispielsweise die Murnau-Stiftung gerne ihre Nitromaterialien rettet, wenn im Bundesarchiv-Filmarchiv deren Kassation angekündigt wird. Aufgrund seiner Bestände eigentlich eines der bedeutendsten Filmarchive weltweit, ist das Bundesarchiv-Filmarchiv in der Realität leider eine totale Fehlkonstruktion. Das Bundesarchiv selbst ist das zentrale Aktenarchiv des Bundes und seiner Vorgängerinstitutionen. Bis zur Wende hatte es eine kleine, eher dokumentarisch ausgerichtete Filmsammlung. Etwas größere Filmarchive gab es auf Länderebene, z.B. in München, in Frankfurt/Wiesbaden oder in Berlin-West. Das eigentliche deutsche Filmarchiv stand aber in Berlin-Ost: das Staatliche Filmarchiv (SFA) der DDR, das bestandsmäßig die Nachfolgeeinrichtung des Reichsfilmarchivs der Nazis war und durch die engen Kontakte mit der Sowjetunion von der Rückführung eines Teils der bei Kriegsende geraubten Filme profitierte. Dessen Direktor von 1969 bis zur Auflösung 1990 war Wolfgang Klaue, der von 1979 bis 1985 auch der FIAF vorstand und in dieser Funktion die Belgrader UNESCO-Empfehlung von 1980 betreffend die Erhaltung bewegter Bilder wesentlich mit angeschoben hat. Das SFA war sicherlich kein paradiesischer Ort, aber es war international bestens vernetzt und machte eine seriöse und moderne Filmerbepolitik, die die aktive Akquise von deutschen Filmen im Ausland oder die Archivierung von deutschen Synchronisationen ausländischer Filme mit einschloss. Im Bundesarchiv-Filmarchiv wird eine solche Politik nicht betrieben, was in aller erster Linie an den Strukturen liegt: Filme sind keine Akten, die automatisch geliefert werden und die man dann nach bestimmten Regelungen kassiert oder archiviert – es sind Kulturgüter, die mit einer großen Portion Idealismus aktiv betreut werden müssen, was nur in einigermaßen selbständigen Strukturen und mit entsprechend ausgebildetem Personal machbar ist. Der aktuelle Koalitionsvertrag sieht eine personelle und finanzielle Stärkung des Filmarchivs im Bundesarchiv vor. Was eigentlich nötig wäre, ist eine Ausgliederung. Das zentrale deutsche Filmarchiv sollte die Speerspitze der internationalen Filmerbe-Bewegung bilden und nicht immer nur den Entwicklungen hinterher hinken.

Institutionen wie das Bundesarchiv-Filmarchiv, die ohnehin schlecht aufgestellt sind, tun sich natürlich noch schwerer als andere, die richtigen Antworten auf die Herausforderungen der Digitalisierung zu finden, die die bisherige Funktion von Archiven und Archivaren auf verschiedenen Ebenen bedroht: sei es, weil die Archivierung künftig in Rechenzentren stattfindet und der Zugang zu den Archivalien von zu Hause aus möglich sein wird, oder weil zur Digitalisierung immer auch eine Standardisierung von Daten- und Metadatenformaten gehört, die u.a. das Einpflegen des vormaligen archivarischen Geheimwissens in Datenbanken erfordert. Zusätzliche Gelder aus der Wirtschaft oder aus der Politik sind momentan fast ausschließlich für die so genannte Retro-Digitalisierung zu bekommen, ein Ausdruck, der das Einscannen von analogem Filmmaterial bedeutet, aber Quatsch ist, weil jede Digitalisierung „retro“ ist und die Vergangenheit für die Zukunft retten soll. Hier liegt auch der Ursprung eines der zwei größten Missverständnisse der Digitalisierung: Allein durch das Einscannen werden Filme eben nicht automatisch für die Zukunft gesichert. Zum einen kommt es sehr darauf an, welches Material in welcher Qualität gescannt wird; noch viel wesentlicher ist aber das Problem der digitalen Langzeitarchivierung, für die im Gegensatz zur analogen überhaupt keine Erfahrungswerte bestehen. Man darf also die Digitalisierung des deutschen Filmerbes zum Zweck der Sichtbarmachung in inzwischen umgerüsteten Kinos oder auf VoD-Plattformen nicht verwechseln mit einer seriösen langfristigen Sicherung dieser Filme. Hinzu kommt das zweite Missverständnis: Wir befinden uns eben nicht in einem digitalen, sondern in einem hybriden analog-digitalen Zeitalter. Der Großteil aller archivierten Filme liegt immer noch auf analogem Filmmaterial vor, und das wird auch noch eine ganze Weile so bleiben. Manche würden ohnehin auch digital produzierte Filme lieber auf Filmmaterial sichern, aber wer dieses in Zukunft produzieren wird und wie lange es noch die entsprechenden Geräte und das Knowhow geben wird, steht in den Sternen. In jedem Fall ist es eine gute Idee, die analogen Materialien auch nach der Digitalisierung weiter aufzubewahren. Das alles kostet, wie unschwer zu erraten ist, viel Geld.

Auf der einen Seite müssen Filmarchivare, -historiker und Cinephile wohl damit leben, dass auch in naher Zukunft nicht alle audiovisuellen Materialien erhalten werden können – nicht einmal all die, die es vielleicht wert wären. Was aber andererseits fehlt, ist der politische Wille, die tatsächliche Situation des Filmerbes anzuerkennen und entsprechende Strategien zu entwickeln. Um die Politik zu überzeugen braucht man mehr als eine Handvoll entschlossener Archivare, es muss wenn nicht öffentlichen Druck, so doch einen breiten Konsens über die Notwendigkeit der Filmarchivierung geben. Was es stattdessen gibt in Deutschland ist ein großes Missverhältnis zwischen der Allgegenwart von audiovisuellen Medien und der Sensibilität für die historische Relevanz von Bewegtbildern, für ihren dokumentarischen und ästhetischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wert und die daraus folgende Notwendigkeit, Geld für ihren Erhalt und ihre Erschließung auszugeben. Mal sehen, was von unserer Kultur übrig bleiben wird.

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