Erzählt man Katastrophen vom Ende her, erscheinen sie gleichermaßen regelbasiert wie vermeidbar. Sie besitzen – ausgenommen von Naturkatastrophen – eine eigene Logik, kündigen sich an, pflanzen sich fort und eine Verkettung ungünstiger Ereignisse führt schließlich zum Desaster. Erzählt man dieselbe Geschichte von der Mitte her, bietet sich ein differenzierteres Bild. Hier stehen wir:
Der Stand der Politischen Debatte
Das audiovisuelle Erbe ist mittlerweile in der politischen Diskussion angekommen. Beispiele sind die zahlreichen Initiativen von der Deutschen Digitalen Bibliothek bis zur Europeana, die dazu dienen, dieses Erbe transparent und nutzbar zu machen. Auch die Digitalisierung analoger Filme dient diesem Zweck.
Allerdings ist ein zentraler Aspekt, unter dem das audiovisuelle Erbe diskutiert wird, der des Verlustes. Der Grund dafür liegt im Wechsel zu digitalen Produktionsweisen und den damit einhergehenden Problemen, wie der Haltbarkeit der Trägermedien und dem Wechsel bei den Formaten. Hinzu kommt die unvollständige Erfassung und Archivierung des analogen Filmerbes.
Dass diese Probleme auf der politischen Bühne diskutiert werden, ist der Lobbyarbeit von Archiven zu verdanken, aber auch internationalen Initiativen wie dem World Day for Audiovisual Heritage, der 2005 von der UNESCO initiiert wurde. Immerhin koppeln nun alle Digitalisierungsinitiativen, die von den Bundestagsparteien im Jahre 2012 eingebracht wurden, das politische Ziel der Zugänglichmachung mit der Forderung einer Langzeitarchivierung der Digitalisate. Weiterhin offen – und äußerst kontrovers diskutiert und praktiziert – ist allerdings die Frage, ob nach der Digitalisierung eines analogen Werkes dieses vernichtet werden darf.
Aufstieg und Fall
Mit dem Umstieg auf digitale Verfahren hat man sich die der IT-Industrie eigenen kurzen Innovationszyklen, die ständigen Formatwechsel und die Abhängigkeiten von bestimmten Anbietern ins Haus geholt. Überraschend ist, wie schnell dieser Technologiewechsel vollzogen wurde und die analoge Industrie von der Bildfläche verschwand. Analoge Produktionen sind schon seit Jahren die Ausnahme. Nicht unwahrscheinlich, dass das Jahr 2012 als Sargnagel der analogen Filmwelt gelten wird: Der arrivierte Filmhersteller Kodak eröffnete am 19. Januar 2012 den Reigen mit seinem Bankrott. You press the button – we do the rest
, der einstige Werbeslogan von Kodak, ist heute obsolet geworden.
Renommierte Kopierwerke und international etablierte Restaurierungsinstitutionen wie Haghefilm/Cineco in Amsterdam folgten. Damit verschwinden nicht nur herausragende Institutionen, sondern auch die Menschen und mit ihnen ihr Wissen und ihre Erfahrung.
Digitale Langzeitarchivierung
Da die Kosten von digitaler Archivierung sehr hoch sind, favorisierte die Academy of Motion Picture Arts and Sciences − die auch die Oscars verteilt − in ihrer oft zitierten Studie „The digital dilemma“ analogen Film als Trägermaterial zur Langzeitarchivierung auch digitaler Produktionen. Doch dieses Konzept ist durch den Niedergang der analogen Filmproduktion obsolet. Somit verbleiben zur Zeit ernsthaft nur Lösungen auf digitaler Grundlage. In ihrer zweiten Studie, die übrigens zeitgleich mit Kodaks Bankrotterklärung erschien, richtet die Academy ihren Fokus nicht mehr auf die amerikanischen Majors, sondern auf AV-Archive und unabhängige Filmemacher. Letztere sind zwar 75 Prozent aller Kinoaufführungen verantwortlich, haben aber wesentlich weniger Einfluss im Filmbusiness und verfügen in der Regel weder über die Kompetenz noch die finanziellen Möglichkeiten, das digitale AV-Erbe zu sichern.
„Das Resultat ist, dass wir keine Zeit mehr haben“, meint denn auch Milt Shefter, einer der Autoren von „The digital dilemma“. „Die Zeit für Studien ist vorbei. Wir müssen Lösungen finden, sonst werden wir eine Menge Material verlieren.“
Doch die Frage des Verlusts, des digital gap, ist bei genauerer Betrachtung zunächst gar keine Frage der Technologie, denn es existieren sehr wohl professionelle Archivierungsinstitutionen, etwa bei der Library of Congress. Zentral sind vielmehr Fragen der politischen Archivorganisation und der Finanzierung. Auch darauf macht die Studie aufmerksam.
Wie gravierend diese durch Technologie bewirkten organisationspolitischen Verwerfungen sein können, konnte man schon bei der Umstellung der deutschen Kinos auf digitale Distributions- und Projektionstechnik beobachten. Verteilungskämpfe zwischen den involvierten Interessensverbänden waren die Folge, aber auch bemerkenswerte Einsichten in die Machtpolitiken der digitalen Ära. Peter Dinges, Vorstand der FFA (Filmförderungsanstalt), forderte in einer Anhörung des Kulturausschusses für die Zukunft (sic!) demokratischere Standards auf technologischer Ebene:
„Es soll ein Format geben, und das heißt nicht etwa DCI und ist von den Majors vorgegeben. Das wird in Zukunft ein internationaler ISO-Standard sein, an dem Deutschland und die Europäer in einer ISO-Mitbestimmung demokratisch mitgewirkt haben.“
Das „Code Is Law“-Paradigma, das Lawrence Lessig vor über einem Jahrzehnt formulierte, gilt eben auch für die digitale Kinobranche und den Archivbereich.
Initiativen in Deutschland
In Deutschland beschloss das Kabinett im Oktober 2012 die Pflichtregistrierung für deutsche Filme. Damit werden alle deutschen Filmproduktionen zentral erfasst und in einer Datenbank gesammelt. Zumindest organisationspolitisch schafft dies die Grundlage für eine umfassende Pflichthinterlegung, die nun alle deutschen Kinoproduktionen erfasst.
Rechtliche Impulse kamen seitens der EU: Im Oktober 2012 erließ das EU-Parlament eine Direktive zu den verwaisten Werken, also audiovisuellen Werken, deren rechtlicher Status unklar ist und die daher praktisch der Nutzung entzogen sind. Die Mitgliedstaaten haben nun zwei Jahre Zeit, diese in nationales Recht zu überführen. Damit ist dieser prekäre Teil des audiovisuellen Erbes – unter Auflagen – endlich besser zugänglich.
Allerdings ist die Frage nach der Finanzierung der digitalen Archivierung nach wie vor unbeantwortet ist – und nur zynische Gemüter hoffen auf einen Fukushima-Effekt, bei dem erst die Katastrophe zu einer Veränderung führt. Gleichzeitig entstehen im Bereich der Zugänglichmachung bemerkenswerte Initiativen.
Eine weitere bemerkenswerte Initiative in Deutschland, ist das von Hans W. Geißendörfer, Joachim von Vietinghoff und Andreas Vogel initiierte Projekt „Schätze des deutschen Films“, das im Frühjahr 2013 online gehen soll. Ziel ist ein Video-on-demand-Portal, das Zugriff auf alle verfügbaren deutschen Kinofilme bietet. Auch die Bestände der wichtigsten deutschen Archive sollen über einen Bestandskatalog transparenter und recherchierbarer gemacht werden. Ebenso erhalten die Murnau- und die DEFA-Stiftung sowie das Bundesarchiv erstmals eine Digitalisierungsförderung zur „Bewahrung des nationalen Filmerbes“.
Lost & not found: das audiovisuelle Erbe
Was allerdings nicht stattfindet, ist eine inhaltliche Diskussion zur Definition des audiovisuellen Erbes. Denn es wäre vermessen, das audiovisuelle Erbe auf den Bereich der nationalen Kinofilmproduktion zu beschränken. Neben der professionellen Filmproduktion für Kino und Fernsehen rücken zunächst die Home Movies und Amateurfilme ins Blickfeld. Dazu gehören zeithistorische Dokumente, die systematisch nur von einigen Archiven wie dem Národní filmový archiv in Prag oder von lokalen Initiativen wie Home Movies Bologna gepflegt werden. Weltweit gibt es immerhin den 2002 eingeführten Home Movie Day, der zumeist von den AV-Archiven organisiert wird.
Auf der anderen Seite stehen die unzähligen audiovisuellen Netzpublikationen, die in Blogs, auf Vimeo oder YouTube veröffentlicht werden und die sich nationalen oder föderalen Betrachtungsweisen entziehen. Die schiere Menge an Bildern verweist unmittelbar auf die Frage, was denn warum und von wem gespeichert werden sollte. Zumindest das von Brewster Kahle gegründete Internet Archive sichert einen Teil dieser Netzkultur. Allerdings bleibt vieles davon aus rechtlichen Gründen auf absehbare Zeit nicht für Nutzer zugänglich.
Diese Diskussion, was denn überhaupt unser audiovisuelles Erbe sein soll und die unbequeme Diskussion darüber, welche Mechanismen zur Auswahl greifen könnten, richtet sich gleichermaßen an die Öffentlichkeit, die Gedächtnisorganisationen und die Politik. Sie hat noch nicht einmal begonnen.
Abgedruckt in: Das Netz 2012 – Jahresrückblick Netzpolitik