Die Vermessung des Sehens

Made by Netflix

Die Deutschlandpremiere von Netflix wurde mit einer Mischung aus hoffnungsvoller Erwartung und kritischer Distanz begleitet. Einerseits gilt vielen Netflix als der innovativste Versuch, neue Bilder und Formate zu kreieren, anderseits steht Netflix für die grundlegendste Revision bestehender Strukturen. Ausgehend von der Produktion bis hin zum Endverbraucher gilt: Nichts soll mehr so sein wie es einmal war. Nimmt man beides zusammen, assoziiert man unweigerlich den Begriff der Revolution und wahrscheinlich liegt man gar nicht so falsch damit.

Vom DVD-Vertrieb, der einen eher kleinen Teil des traditionellen Postnetzes für sich beanspruchte, zum größten Internet-Nutzer. So könnte man die Karriere von Netflix zusammenfassen. Weniger bekannt ist, dass sich hinter den schlichten Zahlen – Netflix benötigt schon heute bis zu 1/3 der Netzkapazität in den USA – gravierende Verteilungskonflikte verbergen.
Die Etablierung des Flatrate-Modells, die Netflix so erfolgreich machte, und die gleichzeitige Bereitstellung von allen Folgen einer Staffel hatten weitreichende Konsequenzen. Jenseits der gesellschaftsfähig gemachten „all you can see“-Mentalität führte der enorme Bandbreitenbedarf zunächst zu einer ökonomischen Neupositionierung. Wie Apple oder Google hat auch Netflix mittlerweile ein großes Netz an Servern gemietet oder selbst aufgebaut, um seine Inhalte auszuliefern. Damit ist der serverseitige Teil abgedeckt (Backbone/Content delivery network) und potentielle Konflikte sind damit ausgeräumt. Problematischer gestaltet sich die Auslieferung, insbesondere die letzte Meile. Hierfür sind zunächst die großen Kabelnetz- oder Telefongesellschaften zuständig (ISPs), die aber den stetig wachsenden Bedarf nicht ohne neue Investitionen decken können.
An diesem Punkt wird der Konflikt virulent. Nachdem von absichtlichen Drosselungen gegenüber Netflix die Rede war, eskalierte der Streit zwischen Netflix und dem amerikanischen Kabelnetzbetreiber Comcast und führte schließlich zum Abschluss eines bilateralen Vertrages. Angeblich bezahlt Netflix nun mehrere Millionen Dollar jährlich für den Zugang. Auch wenn in kurzen Statements seitens der Unterzeichner betont wurde, dass Netflix-Daten nicht bevorzugt behandelt werden, besitzt diese Vereinbarung Symbolcharakter. Aus einer vermuteten Benachteiligung ist eine vermutete Bevorteilung geworden. Die als Ergebnis des „Comcast-Netflix Battle“ (Slate) getroffene Vereinbarung ist also bisher noch Ausdruck eines Verteilungskonfliktes von Kosten und Gewinnen. Sie könnte aber auch schon der Anfang vom Ende der Netzneutralität sein, denn mit dieser Vereinbarung werden zwar noch nicht die Daten von Netflix prioritär behandelt, wohl aber Netflix selbst.

Die Netzneutralität stellt bekanntermaßen die rote Linie für die kritische Netzcommunity dar. Schnell kritisierte man die Vereinbarung, aber auch den Lobbyismus der US-Kabelgesellschaften (wie Comcast) scharf. Im Rahmen des „battle for the net“ wurde am 10. September 2014 der Internet slowdown ausgerufen und zahlreiche Firmen und Gruppen wie Kickstarter, Netflix, Vimeo oder Mozilla versahen ihre Websites mit entsprechenden Widgets. Dabei wurde die Geschwindigkeit nicht wirklich gedrosselt, aber die Widgets suggerierten genau diese Gefahr.
Dies ist aber nur der Anfang von strategischen Verschiebungen, die Netflix im Auge hat: Zwei weitere stehen auf der Agenda.

Bruch mit den Verwertungsketten

Netflix drängt darauf, die klassische Auswertungshierarchie des Kinofilms – also prioritär Kino, dann je nach gusto DVD, Fernsehen und Streaming – aufzugeben. Nachdem die großen Filmproduzenten hierzu offensichtlich nicht bereit waren, arrangierte sich Netflix mit der Weinstein Company, um den Arthouse-Film Crouching Tiger, Hidden Dragon: The GREEN Legend (Woo-ping Yuen) im August 2015 zeitgleich in Kinos und als Stream zur Verfügung zur stellen. Damit werden nicht nur die Auswertungsfenster infrage gestellt, sondern auch das Kino als primäre Abspielstätte von Film.
Dass sich Netflix auch nicht mehr mit der Rolle als Verleiher begnügen möchte, ist bekannt. Längst werden eigene Serien wie House of Cards (2013ff.) produziert, aufwändige Epen über Queen Elizabeth II sind in Planung. Auch für Deutschland plant Netflix eigens hergestellte Serien. Bedeutsamer aber sind die Bestrebungen, Exklusivität herzustellen. So wird der Comedy-Darsteller Adam Sandler exklusiv für Netflix vier Filme produzieren, auch die Disney Company wird die letzte Staffel von Star Wars: The Clone Wars (2008-2014) nur für Netflix lizenzieren.
Netflix produziert aber nicht nur Kinoformate, sondern auch zunehmend Dokumentationen, etwa über das E-Team von Human Rights Watch, das Interviews mit Opfern des Bürgerkriegs in Syrien führt. Damit ist klar, wer der Adressat dieser Programmpolitik ist.

Netzvisionen statt Televisionen

Linear TV is popular, but ripe for replacement

Netflix Long Term View

Wenn Netflix die starre Programmstruktur des Fernsehens für überholt erklärt, ist natürlich das Fernsehen selbst damit gemeint. Warum sollen sich Nutzer ihr Programm noch vorschreiben lassen und bestenfalls zwischen Spartenkanälen wechseln können? Stattdessen schweben Netflix hoch personalisierte Angebote vor. Das Massenmedium transformiert sich in einen Individualservice. Man wird letztendlich einen Kanal pro Nutzer haben, das wären – Stand heute – schon über 50 Millionen.
Die „One channel per user“-Strategie funktioniert aber nur mit einem effektiven Rückkanal. Das Nutzerverhalten muss beobachtet, ausgewertet und als Programmempfehlung umgesetzt werden.
Insbesondere Letzteres stellt die eigentliche Herausforderung dar, und Netflix entwickelt hierfür einen eigenen Ansatz. Während sich Konsumgüterportale auf das collaborative filtering als Grundlage für ihre Empfehlungen stützen und somit Kaufprofile vergleichbarer Nutzergruppen zum Maßstab machen, setzt Netflix – wie auch andere Kulturportale – zusätzlich auf eine Analyse der Inhalte. Leider ist nur wenig bekannt über die genaue Methodik. Sicher ist nur, dass die dafür notwendige Erschließung eines Filmes von professionellen Teams durchgeführt wird, die eine detaillierte Verschlagwortung vornehmen. Auf dem Weg des reverse engineerings konnte Alexis C. Madrigal über 76.000 verschiedene Mikrogenres bei der Verschlagwortung identifizieren.
Hinzu kommen Hunderte von Begriffen pro Film als Schlagworte. Diese umfassen nicht nur den Grad der Gewalt oder die Jahreszeit im Film, sondern auch den Beruf der Hauptfigur.
Die praktische Bedeutung dieses Vorgehens ist enorm. Heute werden zwischen 75 bis 80 % aller Filme auf Netflix basierend auf individuellen Profilen ausgewählt. Neil Hunt, der Leiter der Produktentwicklung, hat in einem Interview deutlich gemacht, welche Bedeutung dieser Ansatz für Netflix besitzt:
„[Hunt:] Netflix is now devoting as much time and energy to building out that personalization technology as the company put into building the infrastructure for delivering that content in the first place.“

Neil Hunt geht konsequent sogar noch einen Schritt weiter und erklärt die klassische Menüstruktur der uns vertrauten Interfaces für überholt. „Our vision is, you won’t see a grid and you won’t see a sea of titles“. Stattdessen treten Empfehlungen in den Vordergrund. Sie sind das letzte Glied einer ausgeklügelten Kette von Analysen und Hypothesen.

Die Vermessung der Seherfahrung: ein kultureller Kreisverkehr?

Die Algorithmen von Netflix dienen zweierlei Zwecken. Einerseits sollen die Empfehlungen für die individuellen Nutzer verbessert werden, andererseits sind sie natürlich Grundlage für Stoffauswahl, Rollenbesetzungen und Dramaturgie in Eigenproduktionen – auch wenn Netflix dies gerne von sich weist. Warum sollte man den riesigen Datenpool, den man mit dem DVD-Vertrieb aufgebaut und über die Streamingdienste verfeinert hatte, nicht nutzen.

Die Erforschung von Konsumbedürfnissen hatte in der Vergangenheit immer das Ziel, Wünsche möglichst perfekt befriedigen zu können. Auch wenn Hollywood die Wiederkehr des Immergleichen bis zum Exzess kultiviert hat: Seit jeher bildet die geschickte Verknüpfung von Mustern und Variation die Grundlage erfolgreicher Filme. Historisch begründete diese Melange das genrebasierte Studiosystem in den USA – welches nun ein knappes Jahrhundert später von Netflix mit film- und informationswissenschaftlichen Methoden wieder aufwendig dechiffriert wird. Damit schließt sich erstmals der Kreis von Filmproduktion, Distribution und Rezeption mithilfe wissenschaftlich-analytischer Verfahren.

Allerdings realisiert sich diese Dechiffrierarbeit (man könnte auch sagen: reverse emotioneering) nicht im luftleeren Raum. Sie trifft auf umfassend erforschte Sinus-Milieus und eine minutiös beschriebene Typologie der Wünsche. Die Dechiffrierarbeit von Netflix ist aber mehr als das Pendant zu diesen Konsumententypologien. Denn kein anderes Medium außer Film verrät wohl mehr über bewusste und verborgene Sehnsüchte, über den Kern von Privatheit: Intimität. Das Jahr 2014 steht daher für den Einstieg in die wissenschaftliche Vermessung von Gefühls- und Lebenswelten anhand des Films. Nicht mehr die Wissenschaftler analysieren die Filme, sondern die Filme werden genutzt, um auch etwas über die Wissenschaftler als Zuschauer zu erfahren. Und die eigentliche Bedrohung resultiert wohl daraus, dass wir das Ergebnis als so überaus angenehm empfinden werden.

 

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